Ein halbes Jahr ist Generalmusikdirektor Kent Nagano nun in Hamburg. Er sei „sehr neugierig“ auf das, was hamburgisch ist.

Mit Kent Nagano sofort und ausgiebig über ­Musik zu reden ist keine besondere Kunst. Das ist sein Beruf, das ist seine größte Leidenschaft. Aber wie der freundliche, drahtige Kalifornier tickt, was er mag und was eher nicht, wo seine Wurzeln sind und wie sein Leben wurde, wie es ist? Dafür braucht es Zeit und die passende Lücke im Terminkalender des 64-Jährigen.

Hamburgs Generalmusikdirektor verfügt über eine beachtliche Flugmeilenleistung und ein furchterregendes Arbeitspensum: der eine Chefposten in Hamburg, der andere beim Orchestre symphonique de Montréal und der dritte als Erster Gastdirigent in Göteborg. ­Gewohnt wird unter anderem in Paris und San Francisco. Hier Tourneen, dort Gastdirigate. Jede Menge gute Gründe also, um mit ihm ein Gespräch über Gott und die Welt zu führen. Aber auch über Tsunamis, die Trauerfeier für Helmut Schmidt im Michel, über Donald Trump und Artischocken.

Hamburger Abendblatt: Der andere welt­bekannte Einwohner Ihres Heimatorts Morro Bay im Norden Kaliforniens ist Jack LaLanne, der legendäre „Godfather of Fitness“.

Kent Nagano: Aber der ist kein echter Morro Bayer. Er hat sich dort zur Ruhe gesetzt. Für die Alteingesessenen war er immer jemand aus der großen Stadt ...

… und ist dann immer wie Rocky Balboa durch die Stadt gejoggt?

Nagano: Das weiß ich nicht (lacht). Er zog erst dorthin, als ich schon weg war.

In einigen Quellen zu Ihrem Lebenslauf steht, Sie hätten Klarinette gelernt, in anderen heißt es: Bratsche. Was ist richtig?

Nagano: Ich habe Klavier gelernt. Ich wollte aber unbedingt im Orchester spielen, und da ist normalerweise kein Platz für ein Klavier. Also habe ich mit Geige begonnen, dann kam die Klarinette. Mein Klavierlehrer hatte mehrere Orchester gegründet. Dann gab es aber zu viele Geigen, und er bat mich, zur Bratsche zu wechseln.

Haben Sie Geschwister?

Mit acht Jahren dirigierte Nagano bereits den Kirchenchor
Mit acht Jahren dirigierte Nagano bereits den Kirchenchor © HA | Roland Magunia

Nagano: Zwei Schwestern, einen Bruder. Ich bin der Älteste. Die ältere Schwester hat Klavier und Geige studiert, sie gibt heute Unterricht, spielt viel Kammermusik und ist sehr sportlich. Mein Bruder war Anwalt, hat viele Jahre bei Universal Music gearbeitet und ist jetzt pensioniert. Die jüngere Schwester war auch Bratschistin, hat dann aber in anderen Berufen gearbeitet.

Muss ich mir Morro Bay wie eine all-american Kleinstadt vorstellen, mit Main Street und kleinen Läden?

Nagano: Eine Main Street gab es tatsächlich. Als ich aufwuchs, war dort alles sehr familiär orientiert, keine Ketten, keine Shoppingmalls. Die meisten Einwohner waren Fischer oder Farmer.

Ein bisschen wie in den Romanen von John Steinbeck.

Nagano: Das war etwas weiter nördlich, in Monterey oder Salinas. Wir waren viel isolierter, verglichen damit. Schön war es, dominiert von der Natur. Alle Familien kannten sich. Nur eine Schule. Interessant ist aber: Für ein, zwei ­Monate im Sommer verdreifacht sich die Einwohnerzahl, wenn Touristen nach Morro Bay kommen. Es ist ein ­alternatives Urlaubsziel: nicht glamourös, nicht besonders teuer.

Sie sollen schon mit acht Jahren den Kirchenchor dirigiert haben ...?

Nagano: Das ist übertrieben. Ich habe das gemacht, weil es normal war, wenn der eigentliche Dirigent zu viel zu tun hatte. Es klingt jetzt sehr wichtig, aber das war nichts Besonderes.

Gab es den klassischen Wettbewerb mit Geschwistern: Wer am besten Fis-Dur auf dem Klavier hinbekommt, kriegt zur Belohnung den größten Nachtisch?

Nagano: Nein, für uns war Musik einfach das Leben. Wir spielten auch Hausmusik. Was sollte man auch sonst machen mitten auf dem Land? Der nächste Nachbar war Kilometer entfernt, und im Fernsehen gab es meistens nur Wetterberichte für die Landwirtschaft.

Wann waren Sie das letzte Mal dort?

Nagano: Vergangenes Wochenende, für einen Tag.

Und wie fühlt sich das jetzt an, nach Hause zu kommen, und alles ist noch kleiner, als man es in Erinnerung hat?

Nagano: Morro Bay hat sich sehr verändert. Und es ist jetzt viel einfacher, dort hinzukommen. Meine Mutter lebt noch, wir sind dort regelmäßig, sie ist jetzt 87 und bei guter Gesundheit. Ich war mit meinen Geschwistern da, ­wegen der Familie. Aber ich habe nicht das Gefühl, froh zu sein, weil ich dort weg bin und draußen in der großen Welt. Am schönsten ist aber: Die Natur veränderte sich nicht. Durch die Natur fühle ich Heimat. Die gesamte Nordküste Kaliforniens ist für mich Heimat, wir kennen fast jeden Strand zwischen Morro Bay und dem Norden.

Dagobert Duck hat seinen ersten selbst verdienten Taler als Erinnerung unter eine Glaskuppel gelegt. Können Sie sich noch erinnern, was Sie mit Ihrem ersten Honorar angestellt haben?

Nagano: (lange Pause) Daran kann ich mich nicht erinnern ... Ich musste schon früh arbeiten, mit 14, um Geld für die Universität zu haben. Aber an meine erste Stelle, bei der Opera Company of Boston, erinnere ich mich: 59 Dollar pro Woche, 1977. Das war eindeutig unterhalb der Armutsgrenze. Doch wir haben damals so viel gearbeitet, dass wir tatsächlich Geld sparen konnten. Wir waren ja immer nur in der Oper. Unser Leben war Musik.

Konnte man tatsächlich im Kalifornien der 60er- und 70er-Jahre aufwachsen, ­ohne in der Nähe von Drogen gewesen zu sein?

Nagano: Vielleicht war das ein Vorteil von Morro Bay: Als Kinder hatten wir gedacht, wir seien unterprivilegiert, denn all die schönen Dinge gab es ja nur in den großen Städten.

Sie waren zu arm für Drogen?

Nagano: Nein. Das war kein Teil unseres Denkens, weil wir in einem so strukturierten Leben aufwuchsen. Wir sind ja auch nicht surfen gegangen, weil das populär war – das war es damals nicht. Sondern, weil der Pazifik keinen Eintritt kostete und immer geöffnet war. Ein Surfbrett – dritte, vierte, fünfte Hand – kostete dann eben nur einen Dollar. Morro Bay ist Nordkalifornien, es gab gefährliche Strömungen, Weiße Haie. Das südkalifornische Leben mit Palmen und allem Drum und Dran war es eindeutig nicht. Und für die Musikausbildung und den Erfolg, den wir wollten, mussten wir üben. Wir waren wirklich ein bisschen ...: out.

Und später, an der Uni in San Francisco?

Nagano: Ich war ein wenig zu jung für die Drogenrevolution. Und dann, als ich aus Boston wieder nach Kalifornien zurückkam, war ich zu alt. Da war schon alles vorbei (lacht).

Durch Ihren Beruf waren Sie schon so ziemlich überall. An welchen Ort möchten Sie unbedingt zurückkehren?

“Zu große Entfernung zum Wasser ist nicht gut“
“Zu große Entfernung zum Wasser ist nicht gut“ © Roland Magunia | Roland Magunia

Nagano: Für Musik gehe ich überallhin. Sie ist so essenziell, eine Metapher fürs Leben. Wo man Musik macht, ist dann für mich kein großes Thema. Wohin für einen Urlaub? Das ist einfacher. Das hat mit der Region zu tun, in der ich auf­gewachsen bin. Ich mag es nicht, wenn es zu trocken oder zu heiß ist. Hawaii ist ebenso wenig etwas für mich wie die Wüste von Arizona. Und zu große Entfernung zum Wasser ist auch nicht gut. Ich brauche die Dimensionen von Wasser, das Meer oder wenigstens einen großen See.

Wenn es nicht um Musik geht, kommen meine Vorlieben für andere Elemente zum Tragen: schönes, graues, kaltes, windiges Wetter wie in Hamburg oder in San Francisco. Wir sind oft nördlich von dort, wo es kaum Zivilisation gibt. Dort grenzen die Berge fast bis direkt ans Wasser, es ist sehr dramatisch. Kein richtiger Strand, es ist kalt und windig, wirklich gewalttätiges Wetter. Man fühlt die Macht der Natur. Auch die nördliche Küste von Quebec ist unglaublich schön.

Wo wir jetzt beim Thema Wasser sind: Werden Sie seekrank?

Nagano: Manchmal. Aber fürs Surfen sind Wellen nun mal notwendig. Eine Geschichte dazu: 1964 gab es ein großes Erdbeben in Alaska, das größte in Nordamerika seit Beginn der Aufzeichnungen, das einen Tsunami auslöste. Alle Schulen in Küstennähe wurden des­wegen geschlossen, auch unsere. Und wir Idioten sind nach Hause gegangen, haben unsere Surfbretter geholt und am Strand auf die große Welle gewartet. Die kam natürlich nicht. Komplett idiotisch. Das Wasser stieg nur ganz langsam. Ach, wir waren enttäuscht.

Stichwort Naturkatastrophen am Wasser: Wissen Sie, was Labskaus ist?

Nagano: Nein.

Hat man Ihnen Labskaus schon mal ­gezeigt?

Nagano: Auch nicht, was ist das?

Eine Art Resteessen, wie ein Brei.

Nagano: Klingt sehr exotisch ...

Sie arbeiten nun schon einige Monate in Hamburg. Ist Ihnen die Mentalität dieser Stadt dadurch klarer oder unklarer geworden?

Nagano: Möglicherweise kommt diese Frage zu früh. Ich bin hier so auf die Arbeit konzentriert gewesen, dass die meisten meiner Kontakte mit meinem Beruf zu tun haben. Aber Hamburg ist viel mehr. Ich bin ganz, ganz neugierig.

Was ist für Sie hier speziell?

Nagano: Viel. Was mir und meiner ­Familie sofort aufgefallen ist: die Architektur. Wirklich einzigartig. Auch das internationale Gefühl von Hamburg ­haben wir sofort gespürt. Die Bindungen zu anderen Hafenstädten. Wir fühlen eine Verbindung zu England. Und ich verstehe die Hamburger, wenn sie sprechen ... (lacht)

Das glauben Sie nur.

Nagano: Meinem Selbstbewusstsein hat das geholfen (lacht).

Haben Sie die Münchner etwa nicht verstanden?

Nagano: Die habe ich gut verstanden, aber tief in bayerischen Alpendörfern war es schon schwierig ... Dann das Salz in der Luft. Ich weiß, dass die Nordsee weit weg ist, aber man riecht sie trotzdem. Auch der soziale Rhythmus ist hier etwas anders. Wie man miteinander redet. Hier ist es etwas ...

.... langsam?

Nagano: Nein, es gibt hier eine sehr schöne Zurückhaltung. Meine Frau und ich finden das sehr elegant. In Kalifornien möchte man manchmal sagen: Bitte, teilen Sie nicht so viel mit mir. Ich brauche nicht alles über Sie zu wissen. Für uns ist die Einstellung hier sehr ­angenehm.

Wenn man aus Paris, einem Ihrer ­Lebensmittelpunkte, einfliegt, um hier für einige Zeit zu arbeiten, wirkt Hamburg dann nicht wie ein Dorf?

Nagano: Ich verstehe, was Sie meinen, aber ehrlich gesagt: nein. Ich komme aus einem Dorf, diese Mentalität kenne ich sehr gut. Mein erster Eindruck: Es fühlt sich wie eine besondere internationale Stadt an. Nicht international wie Manhattan oder das Zentrum von Paris. Auf eine tiefere Art, vielleicht noch tiefer als in manchen wirklich großen Städten.

Wie geht für Sie der Satz weiter: Zuhause ist für mich, wo ...

Nagano: Tja, in unserer Situation ist Zuhause für uns: die Familie. Wenn wir Glück haben – und ich klage nicht –, dann haben wir ein gemeinsames ­Wochenende. Das kann überall passieren, in Frankreich, Rom, Montreal oder London.

Wo steht Ihre Waschmaschine?

Nagano: Eine steht in San Francisco und eine in Paris. Das sind unsere strategischen Festpunkte. Paris ist ein guter Flughafen, um ganz Europa zu erreichen; San Francisco, weil das meine Heimat ist. Hier in Hamburg wohne ich in einem Residenzhotel mit Apartment-Gefühl, mit Küche und mehreren Zimmern. Wenn unsere Tochter demnächst an die Uni geht, wird unser ­Leben sich aber sehr verändern. Die klassische Reaktion in den USA wäre jetzt, eine Corvette zu kaufen.

Aber jetzt sind Sie auch schon zu alt für eine Midlife-Krise.

Nagano: Stimmt. Andererseits: Als ­Musiker ist man immer in einer Krise.

Eine letzte Frage zu Hamburg: Sie haben bei der Trauerfeier für Helmut Schmidt die Philharmoniker im Michel dirigiert. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie man das schafft: auf der Beerdigung von jemandem, den man kannte und vielleicht sogar Freund genannt hat, zu musizieren. Ist das besonders schmerzhaft? Oder auf eine bestimmte Weise besonders schön, weil niemand sonst sich so von ihm verabschieden konnte?

Nagano: Es war für mich eine große Ehre; als Amerikaner, als Fremder, rechnet man nicht mit der Bitte. Natürlich habe ich das gemacht, und jeder in Montreal wo ich Proben-Termine hatte, hat das verstanden. Sie haben alles getan, um es mir zu ermöglichen. Für die Deutschen war Schmidt eine sehr besondere Persönlichkeit.

In Nordamerika und Kanada hat man ihn sehr respektiert. Sie meinten, ich sei vielleicht ein Freund gewesen. Überhaupt nicht. Ich habe ihn für die Arbeit an meinem Buch kennengelernt. Ich war nur ein Musiker. Dort zu sein, mit unserem Orchester in St. Michaelis, das war ein tief ­bewegender Moment – Angela Merkel sprechen zu hören und Henry Kissinger. Es klingt vielleicht zu einfach, aber ich fühlte mich sehr geehrt.

Nagano und Delnon im Interview
Nagano und Delnon im Interview

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    Also war es eher Trost und nicht Trauer?

    Nagano: Ich habe die Traurigkeit in der Sensibilität aller Menschen gefühlt, die dort waren. Es hat sich sehr ehrlich angefühlt. Wir leben in einer Welt, in der die Kraft von Marketing so stark sein kann. Doch dort waren die Ehrlichkeit und die Wahrheit so tief, dass man die gemeinsame Trauer spürte. Schön, solche Ehrlichkeit zu fühlen.

    Da wäre nichts anderes als Musik von Bach möglich gewesen, oder?

    Nagano: Ich glaube nicht.

    Themenwechsel. Das nächste Stichwort auf meiner Liste: Flüchtlingspolitik. Muss man sich als Künstler dazu verhalten? Wenn Sie sehen, was jetzt in diesem Land und in Europa passiert oder auch nicht, was denken Sie darüber?

    Nagano: Ich bin nur ein Musiker und im politischen Raum völlig ohne Qualifikationen, irgendetwas dazu zu sagen. Aber ich bin Amerikaner. Unsere Kultur ist ganz jung. Ein großer Teil unserer Identität begründet sich darin, dass wir ein Land voller Emigranten sind, von denen viele wegen religiöser Verfolgung kamen. Dieses Flüchtlingsthema ist also von Anfang an Teil unserer Identität. Das Konzept Amerikas ist: Jeder soll eine gerechte Chance haben, die Möglichkeit, etwas aufzubauen und zu schaffen. Doch es gibt keine Gesellschaft, in der das durch und durch einfach wäre, auch unsere in den USA nicht, das zeigt nicht zuletzt gerade der Präsidentschaftswahlkampf. Teil dieser Verantwortung ist die Zusammenarbeit. In den USA spricht man vom melting pot, in Kanada von der Mosaik-Kultur, von Koexistenz mit Toleranz. Ich glaube deswegen, dass die meisten Amerikaner sehr aufmerksam regis­triert haben, als die Flüchtlingszahlen vor einigen Monaten stark anstiegen und die deutsche Haltung war: Wir werden versuchen, offen zu sein. Die meisten Amerikaner haben das sehr bewundert, auch wenn klar war: Einfach wird das nicht.

    Doch wie empfindet ein Musiker es dann, wenn vor der Semperoper in Dresden ­immer wieder montags Pegida-Demonstrationen stattfinden?

    Nagano: Schwierig, und es gibt keine einfache Antwort darauf.

    Da habe ich ein Zitat für Sie: „Musik wurde immer für die offene Gesellschaft geschrieben, nicht für die geschlossene. Seit Bach und Beethoven hat sie unsere Werte transportiert, unseren Glauben, unsere Idee von Freiheit.“ Steht in Ihrem Buch. Solche Sätze kann man nicht oft genug sagen.

    Nagano: Es ist wichtig, stimmt. Es ist wahr. Manche glauben, Musik ist das, was auf Notenblättern geschrieben steht. Doch das allein ist noch kein Konzert. Dafür braucht man das Publikum, erst dann ist die Kommunikation komplett.

    Jetzt sind wir aber etwas zu sehr von der Tagespolitik entfernt. Ministerpräsident Horst Seehofer – Ihr oberster Dienstherr, als Sie Generalmusikdirektor an der Münchner Oper waren – hat gerade die Bundeskanzlerin attackiert: Wir hätten im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung, es sei eine Herrschaft des Unrechts. So sprach man früher in der CSU nur von der DDR.

    Nagano: Nun ja, so geht es ja nicht nur in der deutschen Politik zu. Sehen Sie sich an, was einige der Präsidentschaftskandidaten in den USA sagen. Es ist erstaunlich, wie gefährlich sich das anhört. Ich erkenne mein eigenes Land nicht mehr. Donald Trump und Bernie Sanders – ich meine das, was sich hinter ihren Worten verbirgt. Das ist brand­gefährlich und explosiv. Doch wir als Musiker müssen unsere Musik spielen, wie wir sie empfinden. Musik ist Politik, man kann das nicht voneinander trennen. Aber man kann keine Musik durch Politik erschaffen.

    Erzählen Sie das mal dem Dirigenten ­Valery Gergiev und dem von ihm so verehrten Putin.

    Nagano: Ja, es wäre naiv zu glauben, man könnte Musik und Politik in einer idealen Welt voneinander lösen.

    Dennoch vermisse ich noch eine klare ­Antwort. Wie fühlen Sie sich als Ausländer in Deutschland, der miterlebt, wie in dieser Kulturnation momentan über Politik gesprochen und gestritten wird?

    Nagano: Ich antworte nicht eindeutig, weil ich glaube, dass sich die Dinge ­gerade ziemlich schnell ändern. Die ­Intensität verändert sich, die Positionen von politischen Führern verschieben sich. Was man heute sagt, wird in zwei Wochen schon nicht mehr relevant sein. Deswegen sind einfache Antworten so schwierig. Aber bei den Werten, an die unsere westliche Zivilisation glaubt – Toleranz, Freiheit, demokratisches Ideal, Gleichheit, Brüderlichkeit –, ist es immer ein Anlass zu großer Sorge, wenn diese fundamentalen Werte nicht mehr mit öffentlichem Reden übereinstimmen. Meine Referenzgröße sind die US-Präsidentschaftswahlen, die Meinungsumfragen dort. Dieses Mal ist es besonders interessant, weil sie fast alle völlig falschliegen. Wir scheinen in einer Zeit komplizierter Unsicherheiten zu leben.

    Ist das eine gute oder eine schlechte Zeit für die Kunst?

    Nagano: Es ist eine Zeit, in der Kunst besonders relevant ist. Gut, schlecht? Keine Ahnung, was das bedeutet. Kunst ist die Reflexion unserer Menschlichkeit und unserer Werte. Wenn das wahr ist, ist es jetzt wichtiger als je zuvor, dass wir ernsthafte und inhaltlich tiefe Kunst schaffen, um das Fundament für menschliche Werte zu betonen.

    Eine verdammt große Verantwortung.

    Als Musiker nutzt Nagano des Repertoire der Musik als Mittel der Kommunikation
    Als Musiker nutzt Nagano des Repertoire der Musik als Mittel der Kommunikation © Roland Magunia | Roland Magunia

    Nagano: Ich glaube, dass alle Menschen diese Verantwortung haben. Wir als Musiker haben dafür unser Repertoire als Mittel der Kommunikation. Wir hätten ja auch die Wahl, nicht aufzutreten oder uns der populären Mode unterzuordnen. Aber jetzt ist nicht die technische Brillanz am wichtigsten, sondern dass wir uns um andere Inhalte bemühen.

    Wenn es am spannendsten ist, soll man zwar nicht aufhören. Aber die Zeit drängt. Pause also, raus aus dem Intendanzbüro und rein ins Taxi, Richtung Veddel, zu den alten Kränen bei den ­50er-Schuppen, denn Nagano hat sich ein Wasser-Motiv für dieses Foto ­gewünscht. Während die Fotos gemacht werden, kommen zwei Ehrenamtliche vorbei, die die historische Technik im Hafenmuseum warten und sich wegen des überraschenden Besuchs freuen. Auf der Rückfahrt zurück zur Staatsoper – ein Vorsingen steht im Terminkalender – bleibt noch etwas Zeit für kurze Fragen zur Person.

    Ihre Eltern hatten also diese Farm. Gab’s da noch etwas anderes außer Artischocken?

    Nagano: Ja, auch Zuckerrüben. Aber man muss beim Anbau immer wieder die Pflanzen wechseln. Deswegen wurden auch Bohnen, Erdbeeren, Salat und manchmal Blumen angepflanzt.

    Mein Vater war Bäcker und Konditor, und ich kann ­Kuchen nicht mehr sehen. Wie geht es ­Ihnen mit Artischocken?

    Nagano: Ich liebe die, nach wie vor. Meine Mutter war als typische Farmersfrau sehr praktisch veranlagt: Bei uns gab’s Artischocken zum Frühstück, zum Mittag und abends. Alle Formen, gekocht, püriert, als Dip. Und ich mag Artischocken immer noch.

    Damit das endlich mal klar ist: Wie spricht man Ihren Nachnamen aus? ­NAgano oder NaGAno?

    Nagano: Weder noch. Es ist eigentlich egal, denn, soweit ich das über Japanisch weiß, sind solche starken Betonungen nicht notwendig.

    Einige Entweder-oder-Fragen: Bier oder Champagner?

    Nagano : Champagner.

    Fleisch oder Fisch?

    Nagano: Fisch.

    „Star Trek“ oder „Star Wars“?

    Nagano: Oh ... Ich bin kein Fan.

    Beatles oder Stones?

    Nagano: Beatles.

    Die erste Platte, die Sie sich gekauft ­haben?

    Nagano: Mit zehn, glaube ich, und ­darauf habe ich sehr sorgfältig gespart, jahrelang: alle Beethoven-Sinfonien. Es gab nur eine Version davon in Morro Bay: die von Toscanini dirigierte.

    Für welches Konzert würden Sie sofort Karten kaufen?

    Nagano: Eines mit der Pianistin Maria João Pires.

    „House of Cards“ oder „Game of ­Thrones“?

    Nagano: Da muss ich passen.

    Was?!

    Nagano: Niemals gesehen. Wir haben keinen Fernseher. Ich glaube, das läuft da, oder?

    Na ja, fast. Kein Fernseher, und Ihre Tochter hat nie rebelliert?

    Nagano: Nein, und wir vermissen es auch nicht. Wir kommen uns auch immer nur dann seltsam vor, wenn uns jemand auf „Game of Thrones“ anspricht.

    Exklusiver Blick in den großen Saal der Elbphilharmonie

    Wie ist Ihr Verhältnis zu Essen? Nach beidhändigem Burgerverputzen sehen Sie nicht aus.

    Nagano: Ich liebe gute Küche, für mich ist die Qualität der Zutaten sehr wichtig. Das hat natürlich damit zu tun, dass ich auf einer Farm aufgewachsen bin, und der Fisch, der bei uns auf den Tisch kam, war etwa zwei Minuten alt. Also: kein Fast Food.

    Süßes oder salziges Popcorn?

    Nagano: Salziges.

    Der letzte Film, den Sie gesehen haben?

    Nagano: „Die Trapp Familie“, die ­Geschichte über die Familie aus „Sound of Music“, aber aus einer anderen Per­spektive.

    Wie schnell sind Sie beim Kofferpacken?

    Nagano: Sehr schnell. Drei Koffer in 30 Minuten. Aber wenn man mir vier Stunden Zeit lässt, brauche ich vier Stunden und 15 Minuten.

    Haben Sie Hobbys, die nichts mit Musik zu tun haben?

    Nagano: Surfen, nach wie vor. Und Schwimmen im See, nicht im Schwimmbad.

    Kennen Sie Ihren Kontostand?

    Nagano: Leider nein.

    Herbert von Karajan hat mal gesagt: „Wer all seine Ziele erreicht, hat sie zu niedrig gewählt.“ Gibt es eine Maxime, ein Lebensmotto, an dem Sie sich orientieren?

    Nagano: Ich sage anderen immer: „Gut genug – das ist nicht genug.“