Hamburg. „Happy Birthday“, sanft vom Publikum gesungen: Die Wiederaufführung von John Neumeiers „Odyssee“ als Gratulation in der Staatsoper.
Ein wenig feierlich wird es nur kurz, da ist der Saal schon abgedunkelt. Wie immer betritt John Neumeier den Zuschauerraum der Staatsoper kurz vor Beginn der Vorstellung und nimmt seinen Platz ein. Da raunt ein sanft gesungenes „Happy Birthday!“ durch die Reihen. Der so Geehrte bleibt an seinem Platz – schließlich sollte auch an diesem Tag die Kunst im Vordergrund stehen. John Neumeier, im 51. Jahr Intendant des Hamburg Balletts, begeht zeitgleich mit der Wiederaufnahme seiner „Odyssee“ an diesem Sonnabend seinen 85. Geburtstag. Erst beim aufbrandenden Schlussapplaus, als ihn der ganze stehende Saal huldigt, wagt er ein offenes Lächeln der Freude über den Zuspruch. Bevor er sich wieder seinem Ensemble zuwendet.
Es ist erstaunlich, wie frisch die – 1995 uraufgeführte – Choreografie der „Odyssee“ nach dem Epos des Homer in dieser Neueinstudierung wirkt. Die Bühne von Yannis Kokkos ist von Anfang an ein offenes Rund mit einem langen, in die Zuschauerreihen gebauten Steg. Eine Leiter führt zur Ebene der Götter, die, so kann man sagen, den ganzen Tag das Geschehen auf der Erde per Video verfolgen – und zur Feier dieses Abends sogar ein wenig Sekt schlürfen.
Hamburg Ballett: Neumeiers „Odyssee“ als Geschenk zum eigenen 85. Geburtstag
In weiße Gewänder gehüllt, ebenfalls kreiert von Yannis Kokkos, kämpft sich der unvergleichliche Erste Solist Alexandr Trusch als Odysseus nach dem Ende des Krieges gegen Troja auf seinen Irrfahrten von einem Abenteuer zum nächsten. Immer wieder muss er durch das wogende Meer, das von Yun-Su Park mit ausladendem blauen Rock und statuesker Eleganz angeführt wird. Wie sich Trusch, nur mit einer Shorts in Tarnfarben bekleidet, in diesem Meer verfängt, ist große Kunst.
Die Beine sind häufig angewinkelt, die Füße geflext, die Arme ausgestreckt, aber auch seine enormen Sprungfähigkeiten kommen immer wieder zum Tragen. Die eher eckigen als fließenden Bewegungen passen zur Musik, die der Komponist, George Couroupos extra verfasst hatte und die das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Markus Lehtinen souverän präsentiert. Sie wirkt auch heute noch mit ihren Xylofon-Läufen, sägenden Streichern und der mitunter verzerrten Trompete ziemlich experimentell, verlangt aber auch, dass man sich auf sie einlässt.
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Alexandr Trusch als Odysseus: Überzeugend bis in kleinste Nuancen
Immer wieder öffnet sich eine hintere Tür im Erdenrund und konfrontiert den tapferen Odysseus mit einer neuen herausfordernden Begegnung, einem neuen Abenteuer. Von seiner Gattin Penelope und seinem Sohn Telemachos getrennt, hält ihn bald Olivia Betteridge als verführerische Meeresgöttin Kalypso in ihren Liebesfängen. Faszinierend, wie die beiden sich ineinander verschrauben und verkriechen, Trusch Betteridge dann wieder im Zuge mehrerer Drehungen auf seinen Schultern balanciert. Später wird er ein weiteres Jahr bei Madoka Sugai als Kirke verbringen und mit ihr einen zittrigen Liebesakt hinlegen. Seine von Charlotte Larzelere getanzte Gattin Penelope wiederum verbringt die Jahre der Trennung von ihrem Mann in Gesellschaft mehrerer Gefährtinnen – und muss sich gegen aufdringliche Verehrer zur Wehr setzen.
Im Verlauf des Abends trifft Odysseus drei verführerische Sirenen, begegnet seiner verstorbenen Mutter Antikleia, getanzt von Laura Cazzaniga und einem toll mit Federkostüm aufgemachten, von Florian Pohl getanzten Kyklop, der am Ende einem Gewehrschuss zum Opfer fällt. Denn Odysseus landet mit seinen soldatischen Gefährten auf neuen Schlachtfeldern. Überzeugend bis in kleinste Nuancen verkörpert Alexandr Trusch die Zerrissenheit des traumatisierten Odysseus. Taumelnd, um Stärke ringend, von einem durchdringenden Ernst ergriffen, gelingt ihm eine tief bewegende Interpretation der tragischen Figur.
Die Botschaft: Die Jugend ist die Zukunft und die Hoffnung
Die „Odyssee“ ist bei John Neumeier ganz klar eine Anti-Krieg-Choreografie. Der Schrecken des Krieges – ausgerechnet am zweiten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine – an diesem Abend ist er besonders spürbar. Hoffnungsträger ist Odysseus‘ Sohn Telemachos, den Louis Musin nicht nur mit tänzerisch herausragender Technik, sondern auch mit großer Ausdrucksstärke gibt. Als Göttin Pallas Athene steigt die so filigrane wie kraftvolle Ida Praetorius auf die Erde herab und greift in die Geschicke der Welt ein.
In Anzug und Hut mit Koffer sucht sie Telemachos auf und gemeinsam mit Alexandr Trusch legen sie einen Pas de trois hin, bei dem sie sich mit eindrucksvoller Raffinesse ineinander verschränken. Mit einer Fotografie des abwesenden Vaters begibt sich Telemachos auf die Suche und läuft immer wieder durchs Bild, bevor es zum ersehnten Finale und der familiären Zusammenführung kommt. Die Jugend ist die Zukunft und die Hoffnung – so lautet die Botschaft Neumeiers auch an seinem 85. Geburtstag, an dem das Hamburger Publikum ihn am Ende noch einmal ganz besonders feiert.
Weitere Vorstellungen: 25.2., 17 Uhr, 28.2., 19.30 Uhr, 1.3., 19.30 Uhr, 2.3., 19.30 Uhr, 7.3., 19.30 Uhr, 9.3., 19.30 Uhr, 10.3., 17 Uhr, Staatsoper, Dammtorstraße 28, Karten unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de