Hamburg. Tonmeister Frédéric Couson hat mit „Dancing Cloud“ ein Archiv erfunden, das Proben revolutioniert. Wichtig für die Ära nach Neumeier.
Bei den Proben des Hamburg Balletts John Neumeier geht es um Ausdruck, klar. Aber es geht natürlich auch um Genauigkeit, um Tempo und Musikalität. Die Ensemblemitglieder müssen häufig in nur wenigen Wochen ganze Choreografien einstudieren – und stehen daneben noch regelmäßig auf der Bühne. Das Wissen schnell verfügbar zu haben erleichtert ihnen heute eine Anwendung, die staunen lässt: die „Dancing Cloud“.
Ihr Erfinder, Frédéric Couson, Leiter der Abteilung Ton beim Hamburg Ballett John Neumeier, beschreibt sie als „eine Art Netflix für Tänzerinnen und Tänzer“, was allerdings zu kurz greift. Denn die Mitglieder der Kompanie, die Ballettmeister und natürlich John Neumeier selbst können hier tagesaktuell den Probenstand eines Balletts abrufen. Zugleich wird jede Vorstellung in der Hamburgischen Staatsoper von einer fest installierten Kamera erfasst. „Das funktioniert wie ein lebendes Archiv, bei dem man auf die Historie aller Ballette von John Neumeier zugreifen kann“, erklärt Frédéric Couson.
Früher stapelten sich die Speichermedien im Schrank
Bis vor einigen Jahren waren die Proben aus technischer Sicht ein mühsames Unterfangen. Musiken waren auf Tonbändern gespeichert und mussten ständig umgeschnitten werden, später speicherte man sie auf Microdrive-Speicherkarten, doch da es immer viele Probenversionen für jedes Balletts gibt, stapelten sich die Dateien bald in den Schränken. Mit den bewegten Bildern sah es nicht viel besser aus. Hier gab es zunächst VHS-Kassetten, später DVDs. „Aber wenn John Neumeier dann nur eine Schrittfolge geändert hat, konnte man gleich neun DVDs wegwerfen“, erzählt Couson. Die technischen Innovationen brachten ihn ins Nachdenken.
2012 entwickelte Couson bereits ein eigenes Audiosystem für alle Probensäle. Es ermöglichte, dass auch kleine Änderungen an der Musik sofort verfügbar waren. Die Nachfrage war groß – auch von den zahlreichen Gastcompagnien. „Da kam mir sofort die Idee: Das brauchen wir eigentlich auch fürs Video, aber das gab es in der ganzen Welt noch nicht.“ Den Nutzen begreift man sehr schnell, wenn man Frédéric Couson in seinem Tonstudio besucht. Drei Mitarbeiter teilen sich ein winziges, mit allerlei technischen Apparaturen vollgerümpeltes Büro. Es stapeln sich Speichermedien und Kabel. Und mittendrin steht nun eben der riesige Bildschirm mit Zugriff auf die „Dancing Cloud“, der wie ein absolutes Wunderwerk anmutet. Weil er aber auch noch per Touchscreen funktioniert, ist die Magie komplett. Bewegungen etwa des Ersten Solisten Alexandr Trusch in „Illusionen – Wie Schwanensee“ lassen sich bis ins Detail in einer Szene nachvollziehen. Totalen lassen sich genauso betrachten wie Nahaufnahmen. So wird die Anwendung unverzichtbar für Wiederaufnahmen und Neubesetzungen.
Die Tänzerinnen und Tänzer proben ihre Schritte mithilfe einer App
Die Idee nahm Couson von der Ton-Entwicklung, allerdings ist er kein Programmierer, weshalb er in der Firma Intermediate Engineering einen spezialisierten Partner suchte und fand. Das Fraunhofer-Fokus-Institut bescheinigte den Innovationsgehalt der Anwendung, und somit konnte die 100.000 Euro teure Software im Zuge der eCulture-Initiative der Stadt Hamburg in Auftrag gegeben werden. Hinzu kamen noch einmal 100.000 Euro für die Hardware aus dem Technik-Budget des Hauses. Seit der Saison 2020/2021 ist die „Dancing Cloud“ aktiv. Zwei Server sichern die Daten im Ballettzentrum und bei der Staatsoper. Bis zu 40 Terrabyte können sie fassen.
„Das Neue ist die Verknüpfung der Technologien. Wir haben hier eine Nutzerverwaltung, das heißt jede Tänzerin und jeder Tänzer hat einen eigenen Zugang. Die meisten greifen über eine App auf ihrem Mobilgerät darauf zu“, erläutert Frédéric Couson. Wer welche Filmversionen anschauen darf, wird im Einzelfall festgelegt. Die „Dancing Cloud“ ermöglicht es, dass die Tänzerinnen und Tänzer heute mit mehr Vorwissen in die Proben kommen können. Mit dem Ensemble wurde eigens eine Betriebsvereinbarung geschlossen. „Die Ballettmeister haben Tablet-Computer, die den Vorteil bieten, dass man mit einzelnen Filmen oder Szenen auch offline etwa im Flugzeug auf einer Gastspielreise arbeiten kann.“ Denn so schön die handgeschriebene Ballett-Notation ist, die bei einem Kollegen Cousons am Arbeitsplatz liegt, das ist ein Spezialwissen, das die Ensemblemitglieder in der Regel nicht beherrschen. „Video ist das Medium, mit dem die Tänzerinnen und Tänzer ihre Schritte üben.“
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Neben den tagesaktuellen Proben und Aufführungen gilt es, das umfangreiche Archiv aufzuarbeiten. „Gemeinsam mit dem Deutschen Tanzfilminstitut Bremen haben wir den gesamten Videobestand der John Neumeier Stiftung digitalisiert und importieren ihn nun nach und nach in die ‚Dancing Cloud‘ mit zahlreichen Metadaten, die teilweise noch inhaltlich recherchiert werden müssen“, erläutert Couson.
Mit einer Hand scrollt er sich durch die zahlreichen Ballette. Findet eine alte in körnigem Schwarz-Weiß gedrehte Aufnahme von 1961, in der John Neumeier in dem Ballett „Ludus Coventriae/The Temptation of Eve“ noch selbst auf der Bühne stand. Ein ungeheurer Schatz verbirgt sich hinter der „Dancing Cloud“. Sie belegt einmal mehr, dass der Tanz ein flüchtiges Element bleibt – und in der Arbeitsweise von John Neumeier nie abgeschlossen ist, sondern sich stets weiterentwickelt. Inzwischen gibt es erste internationale Anfragen, die Software zu lizenzieren. „Ich denke, dass wir gut aufgestellt sind“, sagt Frédéric Couson zufrieden. Das betrifft die Gegenwart, aber natürlich auch die Zukunft. Nach der Intendanz John Neumeier.