Hamburg. Isabelle Autissier legt mit „Acqua alta“ ihre dritte packende Geschichte vor: ein Vater-Tochter-Konflikt vor dem versinkenden Venedig.

Sie ist die Expertin für Extremsituationen: Isabelle Autissier, Frankreichs späterer Literatur-Star. 1956 in Paris geboren und aufgewachsen, heute in La Rochelle beheimatet. 1991 sorgte sie für Furore als erste Frau, die allein im Rahmen einer Regatta die Welt umsegelte. In ihren 40ern begann sie zu schreiben. Schon ihr erster Roman, „Herz auf Eis“ (mare, 2017), ließ die Leserschaft buchstäblich erstarren: Darin verunglückt ein junges, hippes Paar aus Paris bei einem Segelurlaub am Kap Hoorn; die Frau lässt, um zu überleben, ihren Partner zurück. Wegen dieser Dramatik, aber auch wegen der atemberaubenden Naturschilderungen, war das Buch für den Prix Goncourt nominiert, wurde „Spiegel“-Bestseller und fürs Kino adaptiert.

Nicht weniger eindringlich war der Folgeroman „Klara vergessen“ (2020), der sich um ein Familienschicksal in Murmansk, nördlich des Polarkreises, dreht, ausgehend von einer Wissenschaftlerin, die während des Stalin-Regimes verschleppt wurde und spurlos verschwand. Nun, in „Acqua alta“, geht es wieder ans Eingemachte. Autissier knöpft sich das drängendste Thema der Zeit vor, den Klimawandel. Oder besser: dessen katastrophale Folgen.

„Acqua Alta“: Wenn Roman und Realität erschreckend zusammentreffen

„Der Nebel steht den Ruinen gut. Er säumt die Risse im Gestein, aus dem nutzlos gewordene Stahlträger hervorragen. Er verschleiert die Trostlosigkeit eines eingestürzten Erkers, eines klaffenden Daches, einer Fassade, aus der die leeren Fenster wie tote Augen starren. Und die Dunstschwaden nähren die Illusion, dass es doch noch einen Ausweg aus dem Unglück gibt, vielleicht alles nur verschwommen ist.“ Das Undenkbare, das Unvorstellbare ist geschehen: Venedig ist in einem monströsen „Acqua alta“, einem Hochwasser, versunken. Im französischen Original heißt der Titel „Le naufrage de Venise“, „Der Schiffbruch von Venedig“.

Autorin Isabelle Autissier im Sommer 2022 am alten Hafen ihrer Heimatstadt La Rochelle.
Autorin Isabelle Autissier im Sommer 2022 am alten Hafen ihrer Heimatstadt La Rochelle. © IMAGO/ABACAPRESS | IMAGO/Leoty Xavier/ABACA

Einer der wenigen Überlebenden ist ausgerechnet der Politiker Guido Malegatti, der die durch Corona geschwächte Wirtschaft und den Tourismus wieder ankurbeln wollte – und dabei alle Warnungen der Umweltschützer, mitsamt ihrem Plan „Venedig retten“, in den Wind geschlagen hat. Am Anfang des Buches fährt er mit einem Boot durch „die Jahrtausende alte Stadt, die Stadt der Städte, das Architekturjuwel der Welt“, und sieht „nur noch einen Haufen Ruinen“.

Venedig steht kurz vor dem Absaufen, das ist Fakt nicht Fiktion

Die Autorin, die für ihre Recherchen einige Zeit in der Lagunenstadt verbracht hat, schildert die Szenerie so dicht und bedrohlich, dass man unweigerlich an Filme wie ‚I am Legend‘ oder „Leave the World behind“ denken muss. Nur, dass hier das düstere Endzeitszenario nicht mehr beiseite in eine ferne Zukunft geschoben werden kann. Denn vorhergehende Hochwasser und massenhafte Kreuzfahrtschiffe haben die auf Pfählen im Schlamm gebaute Stadt tatsächlich schon erheblich geschädigt. Venedig steht kurz vor dem Absaufen. Das ist Fakt und nicht Fiktion.

Isabelle Autissier, „Acqua alta“, mare, 208 S., 23 Euro, aus dem Französischen übersetzt von Kirsten Gleinig.
Isabelle Autissier, „Acqua alta“, mare, 208 S., 23 Euro, aus dem Französischen übersetzt von Kirsten Gleinig. © Mare Verlag | Mare Verlag

Doch „wie sollte man den Gedanken zulassen, dass Venedig derart brutal und endgültig zerstört werden könnte, ohne dass es möglich wäre, einfach abzuwarten, wie man es seit jeher tat, und sich von Verheißungen wie dem MO.S.E.-Sperrwerk einlullen zu lassen?“, fragt sich Guido. An diesem lähmenden Verhalten so vieler und dem milliardenteuren Staudamm, der die Altstadt vor dem Allerschlimmsten bewahren soll, entfacht sich ein zweiter, sehr emotionaler Konfliktherd. Isabelle Autissier wäre nicht die brillante Erzählerin, die sie ist, wenn sie nicht inmitten dieser untergegangenen Welt auch ein zwischenmenschliches Drama platzierten würde: das zwischen Guido und seiner erwachsenen, bereits der familiären Prachtvilla entschlüpften Tochter Léa.

Das Establishment kämpft erbittert gegen Vertreter der Gen Z

Wie in ihren Vorgänger-Romanen stellt Isabelle Autissier auch hier die existenzielle Frage, was mit unseren Beziehungen geschieht, wenn wir unsere Komfortzone verlassen, wenn es ums nackte Überleben geht. Während der Politiker ein „Weiter wie bisher“ propagiert und seine Stadt um jeden Preis wieder auf Hochglanz polieren will, erwacht bei Léa ein starkes Bewusstsein für Natur und Tiere. „Der Abgrund rückt näher, und niemand schert sich drum. (...) Eines Tages wird sie hier an diesem Ort stehen und ins Leere blicken. (...) Wohin werden dann die zarten Säbelschnäbler fliehen, die zierlichen Seeschwalben, die Fischadler, die Graureiher und Silberreiher, die ein Teil der Lagune geworden sind? Léa fühlt sich verantwortlich für all die unschuldigen Arten, den roten Queller auf den Salzwiesen, das Schilf. Sie nimmt es der gesamten Menschheit übel.“

Die junge Frau schließt sich einer Gruppe an, die die vorgelagerte Insel Poveglia besetzt; ausgerechnet dort will ihr Vater einen Investor für ein teures Hotelprojekt gewinnen. Unweigerlich kommt es zum Bruch zwischen beiden; Establishment kämpft erbittert gegen Gen Z. Léa ist bereit, bis zum Äußersten zu gehen, vor Gewalt schreckt sie, die Tochter aus gutem Hause, nicht mehr zurück. In ihrer Mutter, Maria Alba, eine an sich passive Frau der Upper Class, die vom alten Venedig träumt, findet sie eine Komplizin, um Guidos Pläne auszuspionieren. Léas einstiger Liebhaber Livio, Professor an der Universität, will sie davon überzeugen, lieber politisch aktiv statt radikal zu werden.

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„Acqua alta“ ist Autissiers bisher persönlichster Roman, es steckt viel Autobiografisches in der Figur der Léa. Ihre Leidenschaft für das Segeln, ihr Engagement im Umweltschutz spiegeln das Leben der Autorin, die von 2009 bis 2021 Präsidentin des WWF Frankreich war. Geschickt verwebt sie aktuelle Debatten in ihrer Romanhandlung und greift real existierende Projekte wie das noch nicht fertig gestellte „Mose“-Sperrwerk in Venedig auf, was vor dem Hintergrund der gerade für den Markusdom errichteten Glaswand zum Schutz vor Hochwasser umso aktueller und noch absurder wirkt. Und sie lotet die unterschiedlichen Positionen des Konflikts aus, sodass man sich als Leser unweigerlich die Frage stellt: Wie würde ich mich verhalten?