Hamburg. Der Roman „Klara vergessen“ erzählt mitfühlend und mitreißend von einem Familienschicksal in der einstigen Sowjetunion.

„Klara vergessen“ – der Titel hat es in sich, er führt in die Irre. Am Anfang geht es darum, wie ein Mann namens Juri sich an eine Kindheit in Murmansk voller Demütigungen durch seinen unbarmherzigen Vater Rubin in einem noch unbarmherzigeren kommunistischen System erinnert. Daran, wie er als Decksjunge auf einem Fischtrawler durch Rohheit und Gewalt zum Mann gemacht werden soll und wie er darüber zum Mörder wird.

Juri, der mittlerweile als Ornithologe in den USA lebt, ahnt, dass seine Familie ein dunkles Geheimnis hütet. Alles, was er weiß, ist, dass seine Großmutter Klara Anfang der 1950er-Jahre unter rätselhaften Umständen gefangen genommen und in einen Gulag verschleppt wurde. Er hat sie nie kennengelernt. Und doch verbindet die beiden mehr, als er ahnt. Um seinem schwerkranken Vater den letzten Wunsch zu erfüllen, reist er noch einmal nach Murmansk und begibt sich auf Spurensuche.

Es geht um das Vergessen der eigenen Person

Juris Geschichte gibt der französischen Autorin Isabelle Autissier aber nur den Rahmen für eine noch größere Erzählung: die des Vergessens der eigenen Person. Der noch viel stärkere Teil des Romans beginnt mit Klaras Erinnerungen an ihre Vertreibung. Nach und nach ergibt sich die Forscherin ihrem Schicksal: Sie muss unzählige Befragungen in Gefängnissen über sich ergehen lassen, weder kennt sie das Ziel ihrer Transporte noch spricht jemand mit ihr.

Ihre Mitinsassen sind ebenso verängstigt wie sie. Klara lernt mit der Zeit, sich von ihrem früheren Leben zu verabschieden: von ihrer vielversprechenden Karriere als Naturwissenschaftlerin, ihrer Heimat und sogar von ihrer Familie, ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn Rubin.

Sie vergisst, dass sie Klara Sergejewna ist. Alles, was zählt, ist die Natur, die sie umgibt: „Noch lange würde sie sich an die weiten Schneeflächen erinnern, an Eis und Wasser, die in der endlosen Morgendämmerung des hohen Nordens glitzerten. (...) Zum ersten Mal seit anderthalb Jahren meinte sie wieder zu atmen. (...) Alles verblasste angesichts dieser Begeisterung, die sie im tiefsten Innern empfand, ohne es erklären zu können.“

Das Gefühl, auf sich gestellt zu sein, kennt Autorin Isabelle Autissier gut. Die 1956 geborene Französin umsegelte als erste Frau allein die Welt. Nach einem fast tödlichen Unfall 1999 im Südpazifik beendete sie zwar ihre Karriere als Einhandseglerin, nahm jedoch weiterhin an internationalen Regatten teil. Mit dem Autor Erik Orsennas war sie sechs Wochen lang in einem Segelboot in der Antarktis unterwegs; sie hofften auf rettende Winde und kämpften gegen eisige Kälte. Der Lohn ihrer Strapazen: die Einsamkeit und der Blick der großen Entdecker, deren Spuren sie folgten und deren Geschichten sie im Buch „Großer Süden“ erzählen.

Mensch und Natur sind hier gleichermaßen fesselnd

Erst spät widmete sich Autissier dem Schreiben. In ihrem ersten, für den renommierten Prix Goncourt nominierten Roman „Herz auf Eis“ entließ sie ein Pärchen aus der Großstadt in die Wildnis (mit verheerenden Konsequenzen übrigens auf Gesundheit und Psyche der sich einst Liebenden).

In „Klara vergessen“ sind es nun gleich drei vom Schicksal geschlagene Generationen, die sich in die Natur retten: Juri in die Vogelwelt, Rubin auf das Meer, Klara in den Schnee. Dabei gelingt es der Autorin, mensch­liche Begegnungen ebenso fesselnd zu beschreiben wie die unvorstellbare und raue Landschaft am nördlichen Polarkreis.

Am Ende reist Juri dorthin, wo seine Großmutter ein zweites Mal rätselhaft verschwand: ins westliche Sibirien, wo die einstige Forschungsstation mittlerweile verwittert ist und sich die Nachfahren der Nenzen-Nomaden an eine Frau erinnern können, der die unglaubliche Flucht über das Eis gelang. „Er spürte Klara ganz nah bei sich. Sie hatte von dem glitzernden Wasser getrunken, sie war über den bunten Teppich gelaufen, der vor Insekten schwirrte, sie hatte dieselbe Luft eingesogen und dieselben Gerüche wahrgenommen. Er ertappte sich dabei, wie er ihren Namen rief, und seine Stimme flirrte seltsam in der Stille.“