Giovanni Rossi tötete für die Cosa Nostra mehrere Menschen. Seine Strafe hat er in Italien abgesessen. Jetzt will er unerkannt in Deutschland leben. Ein erschreckender Rückblick.
Der Mafia-Killer kommt mit dem Flugzeug aus Italien. Er hat etliche Menschen im Auftrag der Cosa Nostra getötet. Doch jetzt will er auspacken über die Methoden, mit denen die Mafia Deutschland erobert.
Den entscheidenden Anruf erhalte ich in einer Hotellobby in Süddeutschland. Der Mörder der Mafia will auspacken. Er nennt sich Giovanni Rossi. Er will aus Sizilien nach Deutschland kommen und mir berichten, wie das läuft mit den Todeslisten, den Männern, die beseitigt werden, den Bossen und ihren Intrigen. Er muss aus Sizilien verschwinden. Er hat Angst vor den Söhnen seiner Opfer; sie könnten ihre Väter rächen. Er hat Angst vor seinen alten Kumpanen; sie könnten erfahren, dass er mit der Polizei geredet hat. Giovanni Rossi sucht ein sicheres Versteck, einen Neuanfang irgendwo in Deutschland.
Ich soll ihn abholen, sagt er, am Flughafen Köln-Bonn. In drei Tagen. Gerade genug Zeit, eine Ferienwohnung zu beschaffen, in einem ruhigen, sicheren Haus am Rand des Ruhrgebiets. Ein Ort, an dem wir ungestört über Morde und die Mafia reden können.
Eine Woche haben wir, sagt Giovanni Rossi, um unsere Gespräche aufzuzeichnen und auszuwerten. Dann muss er weiterziehen. Er hat einen Kontakt in Süddeutschland. Dort könnte er in ein Zeugenschutzprogramm. Das ist seine Option. Giovanni Rossi hat genug vom Leben im Untergrund. Deswegen verschweigt er den Namen seines Heimatdorfs und er lässt sich mit einem falschen Namen ansprechen.
Ich habe die Angaben von Giovanni Rossi überprüft. Ich habe mit Journalisten des WDR, des „Spiegels“ und Kollegen aus Italien alte Gerichtsakten besorgt und Fakten durchleuchtet. Wir haben Ermittler kontaktiert und geheime Berichte des Landeskriminalamtes und des Bundeskriminalamtes durchgeackert. Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Aussagen von Giovanni Rossi sind echt. Das Interview mit einem Killer erlaubt einen tiefen Einblick in Strukturen der Mafia und in ihren Expansionsdrang nach Deutschland.
Hamburger Abendblatt: Giovanni Rossi, wie kamen Sie zur Mafia?
Giovanni Rossi: In meinem Viertel war die Mafia immer da. Sie war wie eine geheime Verwaltung. Ich bin als Junge in den Sog der Mafia geraten. Schon als ich meinen ersten Raub verübt habe, als 16-Jähriger, geschah das nach dem Willen der Mafia. Nach und nach wurde ich Teil der kriminellen Organisation. Die Mafiosi sind früher offen in Gruppen aufgetreten und fuhren mit ihren Ferraris durchs Dorf. Aber auch wenn sie heute im Hintergrund aktiv sind, im Inneren hat sich nicht viel verändert. Die Dorfbewohner wenden sich noch heute an den Boss und suchen bei ihm Hilfe im Alltag: Einem Bauern haben sie einen Fiat geklaut. Der fragt dann: Kannst du nicht schauen, ob du ihn zurückbekommst? Und wenn der Mafioso den Wagen findet, fragt der Bauer: Was willst du dafür haben?
Wie begann Ihre kriminelle Karriere?
Rossi: Ich bin in die Mafia hineingewachsen. Mit elf, zwölf Jahren habe ich die ersten Diebstähle gemacht, den ersten Einbruch mit 14 Jahren, später Überfälle begangen. Als Jugendlicher konnte ich ja noch nicht belangt werden: Ich habe Kioske ausgenommen und Tabakhändler. An meinen ersten Raubüberfall kann ich mich gut erinnern. Mit meinem Freund habe ich mich auf Hausüberfälle spezialisiert. Wir hatten einen Unternehmer im Visier. Wir hatten uns mit einem Gewehr in seinem Haus versteckt und gewartet, bis er heimkommt. Wir hatten uns mit Motorradhelmen maskiert. Als er die Einfahrt hochkam, ließ er nur seine Frau raus und fuhr noch mal weg. Wir saßen bis drei Uhr nachts mit der Frau auf dem Sofa. Sie war völlig verängstigt, und uns beschlug andauernd das Visier vom Motorradhelm. Ein totales Chaos. Als endlich der Mann kam, haben wir ihm ein paar Tausend Lire abgenommen und sind verschwunden. Mein größter Traum damals war eine Honda SNR 125, die wollten alle, in Rot und Schwarz.
Haben Sie nicht darüber nachgedacht, was Sie den Menschen antun?
Rossi: Nein, über die Todesangst der Frau haben wir uns keine Gedanken gemacht. Wenn ich heute an meine Taten zurückdenke, kommt es mir vor, als habe das ein anderer getan.
Wann wurden Sie Killer?
Rossi: Als Jugendlicher saß ich wegen mehrerer Raubüberfälle ein paar Jahre in Haft. Zunächst im Jugendknast, dann im Erwachsenengefängnis. Dort hat mein Pate schon gewartet. Ich kam in den obersten Stock, da wo die Bosse und Mafiosi residieren. Alles war für mich bereitet, weil die Bosse gesagt haben, der Junge ist wichtig für uns. Als ich entlassen wurde, hat mich mein Pate aus meinem Nachbardorf unter seine Fittiche genommen. Er hat mich zum Killer ausgebildet.
Wie geht das?
Rossi: Er hat mir kleine Aufträge gegeben, hier ein paar Schafe abknallen, dort ein paar Überfälle begehen, irgendwann ein Haus anzünden. Ich wusste noch nicht, was das bedeuten sollte. Aber er hat geprüft, ob ich schweigen kann und ob ich vertrauenswürdig bin. Mein Boss war der Bruder des späteren Capo di tutti i capi der Cosa Nostra, dem Boss der Bosse in Sizilien, dem Oberhaupt der Mafia. Mein Boss stand ganz oben in der Hierarchie. Er hatte 300 Mafiosi unter sich. Irgendwann kam dann der Auftrag, einen Mann zu töten. Ich habe den Auftrag angenommen.
Hatten Sie keine Skrupel?
Rossi: Nein. Ich hatte nie so etwas wie Schuldgefühle. Ich habe die Opfer als Ziele gesehen, als Objekte, die ich aus dem Weg räumen muss. Meist kannte ich nicht mal deren Namen richtig, sondern hatte nur ein Bild von ihnen. Ich habe auch nie nach dem Motiv gefragt, warum ich jemanden umbringen sollte. Wir waren wie eine paramilitärische Gruppe. Der Boss hat befohlen, wir haben gehorcht. Wenn du tötest ist es so, als wärst du auf Drogen. Das Gefühl ist sehr mächtig. Bei meinem ersten Mord haben wir uns bei meinem Boss auf dem Land getroffen, bei seinem Schafstall. Er sagte uns, wo sich die Zielperson aufhält, in welcher Bar. Es hieß, unser Ziel habe Drogen ohne Erlaubnis des Bosses verkauft. Wir haben eine kleine Gefechtsgruppe gebildet. Ich war deren Chef. Dann sind wir losgefahren. Ich hatte eine Beretta 7,65. Mein Freund hatte einen Revolver .38. Als wir zu der Bar kamen, habe ich den Mann aus dem Lokal gelockt. Ich habe gesagt, wir müssten mit ihm reden. In einer Seitenstraße hat mein Freund auf ihn geschossen. Unser Ziel stürzte. Ein zweiter Mann kam aus der Bar gerannt. Ich habe ihm meine Beretta vor das Gesicht gehalten und gesagt, er soll verschwinden. Er hat damit nichts zu tun, er hat nichts gesehen. Mein Boss hat alles aus der Entfernung beobachtet. Wir sind zurück zum Schafstall und haben die Waffen abgelegt. Dann sind wir nach Hause gefahren, haben was gegessen und sind früh schlafen gegangen.Am nächsten Tag waren wir stolz. Wir hatten unseren Auftrag erfüllt. Aber als wir zu unserem Boss kamen, war der stinksauer. Er hat getobt. Das Ziel war nicht tot. Er hatte schwer verletzt überlebt. Mein Boss schrie: Wenn ich sage, dass einer sterben soll, muss er sterben, sonst sterbt ihr. Später hat er sich beruhigt. Er hat gesehen, wie kaltblütig ich geblieben bin. Das hat ihm gefallen. Später hat mein Boss mich zum Capo gemacht: Ich wurde zum Anführer seiner zehnköpfigen Killertruppe.
Hatten Sie kein schlechtes Gewissen?
Rossi: Nein. Ich habe mich nur schuldig gefühlt, weil das Ziel überlebt hatte. Ich habe mir geschworen, beim nächsten Mal lasse ich niemanden entkommen.
Aber es ging doch um Menschen?
Rossi: Natürlich habe ich Personen getötet und keine Objekte zerstört. Aber in diesen Momenten habe ich das Mitgefühl ausgeblendet.
Geht das überhaupt?
Rossi: Ich bin zwischen Jägern aufgewachsen. Und für mich ist es normal, wie ein Jäger auf die Jagd zu gehen und meine Beute zu suchen. Mein Boss hat mich ja deswegen auch ausgesucht, weil ich rücksichtslos bin und zugleich intelligent genug, die Taten umzusetzen.
Welche Geschäfte hat Ihr Boss gemacht?
Rossi: Er hat sich um illegale Pferderennen gekümmert, hat mit Drogen und Waffen gehandelt und Erpressungen organisiert. Sein Einfluss war riesengroß. Er war aber ein Mann unter Toto Riina, dem damaligen Boss der Bosse. Er konnte deswegen nicht einfach seinen Herrschaftsbereich erweitern. Dazu bedurfte es einer Intrige. Gegenüber Toto Riina hat mein Boss so getan, als kümmere er sich nicht um die Angelegenheiten anderer. Mich aber hat er losgeschickt, hinter dem Rücken von Toto Riina zu morden. Ich musste die Gefolgsleute von Riina in anderen Dörfern töten, damit mein Boss seinen Herrschaftsbereich ausdehnen konnte.
Giovanni Rossi spricht leicht über seine Zeit als Mafiakiller. Er sitzt in der Ferienwohnung neben einem offenen Kamin, in dem Holzscheite knistern. Mit seinen Händen unterstreicht er seine Worte, sie wirbeln, wenn er sich aufregt, sie liegen auf seinen Knien, wenn er erklärt. Manchmal steht er auf, geht an ein Fenster und raucht eine Zigarette. Am Mittag lädt er mich ein, mit ihm zusammen Pasta zu essen. Sizilianische Pasta. Er bereitet sie selbst in der Küche der Ferienwohnung zu. Tomaten, Basilikum und viele Gewürze. Giovanni Rossi fängt an, über seine Mutter zu reden, wie sie ihn verabschiedet hat. Geh nach Deutschland, habe sie gesagt, fang ein neues Leben an. Giovanni Rossi vermisst hier alles. Er versteht die deutsche Sprache nicht. Das Wetter ist grau, es regnet. Und am Küchentisch sitzen nicht seine drei Brüder oder seine Schwester, sondern ein Reporter, der ihn nach seiner dunklen Vergangenheit befragt, das Verdrängte wieder aufwühlt. Manchmal klingt eins seiner vier Handys, über die er Kontakt nach Sizilien hält. Er hat eine Geliebte, sagt er, die er nicht mehr sehen kann. Ich frage, worüber er mit seinen Angehörigen geredet hat, wenn er von seinen Morden kam. Er sagt, er habe über alles gesprochen, was normal ist: Dass er etwa eine Beule in sein Auto gefahren hat, was seinen Vater tierisch aufgeregt hat. Die Familie, sagt Giovanni Rossi, sei seine Heimat. Aber wussten seine Mutter, sein Vater nicht, dass er ein Mafioso ist? Doch, sagt Giovanni Rossi. Das hätte seine Mutter gewusst. Er habe ja nie gearbeitet und sei trotzdem mit schicken Motorrädern herumgefahren. Aber sie habe ihn nie gefragt, was er macht. Sie wollte es einfach nicht wissen.
Wie lief der zweite Mord ab?
Rossi: Ich war noch nicht Capo der Gefechtsgruppe. Die anderen hatten sich bei den Ställen getroffen und die Waffen verteilt. Wir sollten vier Leute in einer Nacht töten. Wir setzten uns in die Autos und fuhren los in die Dunkelheit. Eines der Ziele hatte beim Pferderennen betrogen, dieser Mann sollte zusammen mit seinem Boss sterben. Die anderen beiden Männer hatten ohne Erlaubnis Kokain verkauft. Wir wussten, dass alle vier zusammen in einer Bar in der Nähe von Trappeto waren. Dort wollten wir sie erwischen. Unsere Gruppe bestand aus sieben Personen. Ich habe eine Beretta 7,75 genommen, mein Boss eine Pumpgun mit Kaliber 12.Vor der Bar kam es zu Problemen. Die Ziele stiegen gerade in ihre Autos und fuhren getrennt voneinander los. Ich saß mit meinem Boss in einem Wagen. Wir hängten uns an einen Wagen, in dem zwei Leute saßen. Sie ahnten nichts, als sie an einer Tankstelle Rast machten. Der eine ging einen Kaffee trinken, der andere tankte den Wagen. Wir beschlossen, die beiden in ihrem Auto abzuknallen, wenn sie wieder einsteigen. Das ist am einfachsten; niemand kann weglaufen. Du schießt und triffst. Mein Boss hat in einer Telefonzelle gewartet und so getan, als würde er mit jemandem sprechen. Doch als die beiden gerade einsteigen, klemmt meine Pistole. Sie hat Ladehemmung. Mein Kompagnon schießt außerdem am Kopf des Fahrers daneben. Was für ein Chaos. Der Fahrer rennt über die Straße weg in Richtung des nächsten Dorfes. Wie ein Karnickel. Der andere flüchtet zurück in die Tankstelle. Sein Fehler. Mein Boss schießt ihm mit der Pumpgun in den Hintern. Ich renne hinterher. Der Typ versucht sich hinter dem Kassentresen zu verstecken. In dem Augenblick löst sich die geklemmte Kugel in meiner Pistole. Ich kann wieder schießen. Mein Boss ballert los. Gleichzeitig schieße ich dem Mann zweimal in die Brust. Er fällt um. Wir gehen auf den Typ am Boden zu und schießen weiter. Sechs-, siebenmal.
Da waren doch noch andere Menschen in der Tankstelle?
Rossi: Auf die haben wir nicht geachtet. Einige sind geflüchtet, andere haben sich auf den Boden gelegt. Wir hatten nur Augen für unser Ziel. Wir hatten keine Angst vor Zeugen. Wir waren unmaskiert. In Sizilien hört und sieht man besser nichts, wenn einer schießt. Und wir haben sehr viel geschossen. Nach dem Mord bin ich nach Hause gefahren, habe noch etwas eingekauft und mich vor den Fernseher gesetzt. Es gab Pizza und Huhn mit Pommes.
Wie teuer war es damals, einen Menschen erschießen zu lassen?
Rossi: Mein Boss hat mir umgerechnet 2500 Euro gegeben. Er sagte: Da, nimm, das ist für dich.
Bei der Schilderung des Mordes ist Giovanni Rossi aufgesprungen. Im Kamin flackerte das Feuer. Er hat mit den Fingern die Pistole nachgeformt und gezeigt, wie er damals die Schüsse auf den Mann am Boden abgegeben hat. Er ist nicht stolz auf das, was er zeigt. Die Erinnerungen packen ihn und lassen schließlich seinen ganzen Körper beben. Danach geht er an das Fenster. Rossi steckt sich eine neue Zigarette an. Es ist dunkel draußen. Ingesamt habe er sechs oder sieben Menschen getötet, dazu einige Mordversuche, die schiefgegangen sind. Und Anschläge, an denen er beteiligt war. Giovanni Rossi sagt, er könne sich nicht so genau dran erinnern. Mitte der 90er-Jahre wurde er nach einer spektakulären Flucht nach Deutschland verhaftet und in Italien zu 18 Jahren Haft verurteilt, die er abgesessen hat. Nach seiner Entlassung vor einigen Monaten hat er eine Zeit lang mit der Polizei kooperiert und Details zur Organisation der Cosa Nostra und der Stidda aus dem sizilianischen Agrigent verraten. Er hofft, nun bald in ein Zeugenschutzprogramm der deutschen Behörden zu kommen. Giovanni Rossi sagt, wir in Deutschland hätten keine Vorstellung davon, wie tief die Mafia hierzulande schon verwurzelt ist. Sie durchdringe alle Bereiche und mache ihr Geld, mit Drogen, mit Waffen und mit illegalen Baugeschäften. Ganz so wie in Italien.
Welche Beziehung haben Sie zu Deutschland?
Rossi: Mein Vater hat hier lange als Gastarbeiter gearbeitet. In einer Stadt in Süddeutschland. Ich selber bin nach meiner Flucht Mitte der 90er-Jahre aus Italien in Deutschland untergetaucht. Das war sehr leicht, da es in Deutschland eine große sizilianische Gemeinde gibt. Über Bekannte und Freunde bekam ich eine Wohnung und Arbeit. Nach meiner Haftentlassung bin ich wieder nach Deutschland gefahren und in das Umfeld einer Mafiagruppe geraten.
Was macht die Cosa Nostra in Deutschland?
Rossi: In Deutschland genießt die Mafia viele Vorteile. Sie kann sich, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen, schweigend in die Gesellschaft einschleichen. Es läuft hier nicht wie in Sizilien mit Toten und Schießereien. Die Mafia kommt in eine Stadt, sie eröffnet ein Restaurant und gewinnt langsam immer mehr Bedeutung. Die Mafia hat viel illegales Geld. Das wäscht sie in Deutschland.
Lesen Sie morgen im zweiten Teil des Gesprächs: Wie die Mafia in Deutschland funktioniert