Hamburg. Im Phoxxi eröffnet „The End of the World“. Die Fotografien von Claudia Andujar (92) regen zum Nachdenken über Umgang mit Indigenen an.

„The End of the World“, das Ende der Welt. Der Ausstellungstitel ist so dystop wie mehrdeutig. Hat sich nicht längst eine Weltuntergangsstimmung breit gemacht angesichts wiedererstarktem Rechtsradikalismus, verknappter Ressourcen, wirtschaftlicher wie sozialer Unsicherheit, Klimawandel und Umweltzerstörung? In Deutschland, aber auch überall auf dem Planeten? Zum Beispiel in Brasilien, wo Präsident Jair Bolsonaro lange Zeit eine katastrophale, profitgesteuerte Politik walten ließ, die keine Rücksicht auf Mensch und Natur nahm.

Claudia Andujar hat ihren eigenen Weg im Umgang mit den Krisen der Welt

Die 1931 in der Schweiz geborene Fotografin Claudia Andujar hat ihren ganz eigenen Weg gefunden, um mit den Krisen der Welt umzugehen, insbesondere denen in ihrer Wahlheimat Brasilien. Nachdem sich ihre Eltern getrennt hatten, lebte sie bei ihrem Vater in Ungarn. Er und seine Familie wurden in Konzentrationslager deportiert und ermordet. Zusammen mit ihrer Mutter gelang ihr die Flucht vor den Nationalsozialisten über Budapest und Wien bis nach New York. Die Mutter ließ sich in São Paulo nieder. So kam Claudia Andujar mit Brasilien in Kontakt und beschloss nach einigen Besuchen, dort als Fotojournalistin zu arbeiten und sich am Kampf gegen soziale Missstände und Gewalt in ihrer Wahlheimat zu engagieren.

Die Fotografin Claudia Andujar mit einem Mitglied der Yanomami-Gemeinschaft im Jahr 2015.
Die Fotografin Claudia Andujar mit einem Mitglied der Yanomami-Gemeinschaft im Jahr 2015. © © Claudia Andujar | © Claudia Andujar

Eine besondere Beziehung hat sie zu den Yanomami, einer indigenen Gemeinschaft im Amazonasgebiet im Norden des Landes: Seit den 1970er-Jahren dokumentiert Claudia Andujar deren tägliches Leben und Rituale, aber auch deren Konflikte durch Bergbau, Vertreibung und Krankheiten. Auf diese Weise sind schon 60.000 Bilder entstanden. 1960 zeigte die Limelight Gallery in New York erstmals ihre Bilder. Mittlerweile haben viele renommierte Museen weltweit Andujar-Fotografien in ihren Sammlungen. In diesem Jahr wird die 92 Jahre alte Künstlerin bei der Biennale in Venedig ausstellen. Kurator Victor Hois, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus der Photographie, hat in enger Zusammenarbeit mit der Galeria Vermelho in São Paulo eine Auswahl von 300 Fotografien getroffen; diese sind nun im Phoxxi zu sehen.

Fotografin Claudia Andujar kämpft in Brasilien für Minderheiten

Ihre Porträts strahlen Natürlichkeit und Lebensfreude sowie eine tiefe Verbundenheit mit der Natur aus. Wir sehen, wie Mütter ihre Babys stillen oder einen Getreidebrei am offenen Feuer zubereiten, wie Kinder in Baumwollhängematten schlafen oder in einem See schwimmen. Die Kamera baut keine Distanz auf; vielmehr ist sie Kommunikationsmittel der Künstlerin. Dies zeichnet die Dokumentarfotografie von Claudia Andujar aus: Sie lässt sich vollkommen auf die fremde Gemeinschaft ein und zeigt das Leben der Yanomami von innen heraus.

Vogelperspektive der Stadt São Paulo, mit Infrarotfilm aufgenommen, aus der Serie „Mein Leben in zwei Welten“ von 1974.
Vogelperspektive der Stadt São Paulo, mit Infrarotfilm aufgenommen, aus der Serie „Mein Leben in zwei Welten“ von 1974. © © Claudia Andujar. Courtesy Galeria Vermelho, São Paulo | © Claudia Andujar. Courtesy Galeria Vermelho, São Paulo

Anhand ausgewählter Werke der Serien „Reahu“ und „Yanomami Dreams“ wird zudem ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Schamanismus und der Kosmologie der Bewohner deutlich. Spezielle Verfremdungstechniken wie das Auftragen von Vaseline auf die Linse des Objektivs, Langzeitbelichtungen und die Verwendung mehrerer Negative und Dias, die sie übereinander belichtet, lassen in diese Welt eintauchen. Für ihre Serie „Mein Leben in zwei Welten“ (1974), mit der sie ihr Dasein zwischen Stadt und indigener Gemeinschaft begleitete, invertierte sie mit Infrarotfilm alle Farben, sodass alles, was grün ist, auf den Bildern rot erscheint.

Viel beachtet auch ihre Serie „Marcados“ („Die Markierten“): 1980 startete die Fotografin zusammen mit Ärzten eine Impfkampagne, um die Yanomami vor eingeschleppten Krankheiten zu schützen. Da die Bewohner keine portugiesischen Namen haben, mit denen sie identifiziert werden können, fotografierte Claudia Andujar sie mit einer Nummer, die um ihren Hals hängt. Später griff sie diese Serie wieder auf und reflektierte die Parallelen zwischen den Anhängern und den tätowierten Armen von Holocaust-Opfern: Die Gefangenen in den Konzentrationslagern wurden für den Tod markiert, Andujar jedoch markierte die Yanomami für das Leben, für das Überleben.

Für „Yano-a“ (1976) fotografierte Claudia Andujar ein Waldstück der Yanomami aus der Vogelperspektive, ebenfalls mit Infrarotfilm, sodass die Bäume rot-pink dargestellt sind. In der Bildmitte ist eine Lichtung mit einem Gemeinschaftshaus. Darin leben bis zu 400 Menschen zusammen.
Für „Yano-a“ (1976) fotografierte Claudia Andujar ein Waldstück der Yanomami aus der Vogelperspektive, ebenfalls mit Infrarotfilm, sodass die Bäume rot-pink dargestellt sind. In der Bildmitte ist eine Lichtung mit einem Gemeinschaftshaus. Darin leben bis zu 400 Menschen zusammen. © © Claudia Andujar. Courtesy Galeria Vermelho, São Paulo | © Claudia Andujar. Courtesy Galeria Vermelho, São Paulo

Claudia Andujar setzt sich nicht nur künstlerisch für die Yanomami ein, sondern wurde auch zu einer durchsetzungsstarken Anwältin für deren Rechte. Zusammen mit anderen Umweltschützern gründete sie 1978 die nicht staatliche Organisation „CCPY“. Ihr jahrelanger engagierter Kampf, etwa an der Seite des Schamanen und Sprechers der indigenen Gemeinschaft Davi Kopenawa, führte 1992 letztlich zur Abgrenzung des Lebensraums unter dem Namen „Yanomami-Park“. Doch auch, wenn die neue Regierung unter Präsident Lula da Silva einen gemäßigteren Kurs fährt und sogar den medizinischen Notstand im Park ausrief, wird weiterhin im großen Stil Bergbau in indigenen Gebieten betrieben. Der Einsatz der Künstlerin hat daher auch heute nicht an Aktualität und Brisanz verloren.

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Im April wird „The Lady with the Arrows“/„Ich sehe dich durch meine Kamera“, ein Dokumentarfilm über Claudia Andujar, in die Kinos kommen. Einen fünfminütigen Ausschnitt gibt es schon jetzt in der Ausstellung. Darin schildert die Künstlerin ihre erste Reise zu den Yanomami, die bis in die 1970er-Jahre kaum Kontakt zu Menschen außerhalb der Gemeinschaft hatten. Sie kam per Flugzeug, denn eine Straße existierte damals noch nicht, und habe „Blue Jeans“ getragen. „Die Yanomami rätselten, ob ich Frau oder Mann sei und berührten mich am ganzen Körper, um festzustellen, ob ich tatsächlich ein Mensch wie sie bin.“ Fotografiert hat Claudia Andujar erst bei ihren späteren Besuchen. Zunächst sei es darum gegangen, die Menschen zu verstehen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Das wurde belohnt: „Ich habe bei den Yanomami etwas gefunden, das für das Leben steht.“

„Claudia Andujar. The End of the World“9.2.–11.8., Phoxxi (U Meßberg), Deichtorstraße 1–2, Di–So 11.00–18.00, jeden 1. Do im Monat 11.00–21.00, Eintritt 9,-/6,- (erm.), Kinder und Jugendliche bis 18 J. frei; deichtorhallen.de