Hamburg. Ganz große Liedkunst mit dem Bariton Christian Gerhaher und dem Pianisten Gerold Huber. Begeisterter Applaus schon zur Begrüßung.

Eigens für den Bariton Christian Gerhaher könnte man seine „Liederabende“ umtaufen – zu „Lesung mit gesungener Poesie“. Seine Diktionskunst und Deklamationsintensität sind so einzigartig klar, dass man jedes Wort, jede Silbe, ja: jeden Buchstaben, wo nötig, sinnvermittelnd versteht und geradezu kinderleicht nachvollziehen kann. Kein Vergleich zum chronischen Rätselraten, was da wohl gerade vernuschelt wurde, bei so vielen anderen. Kein Wunder also, dass der Charakter-Sänger Gerhaher bei seinem Auftritt im Kleinen Saal der Elbphilharmonie schon zur Begrüßung begeisterteren Applaus erhielt als manche am Ende ihrer Auftritte dort.

Gerhaher ist nun mal ein im klassischsten Sinne dieser Worte belesener und angenehm penibler Musiker. Die Noten sind bei ihm auch Geschmacksträger des lyrischen Inhalts von Kunstliedern. Er kann über und durch sie zum Erzähler werden, zur Hauptperson, zum Nebendarsteller, zum dezenten Bedeutungsbetoner, zum Naturmaler mit noblem Pinsel.

Elbphilharmonie Hamburg: Christian Gerhaher und Brahms – Ein Gedicht von einem Liederabend

Und was für ein Geschenk wurde dann in gespannter Stille überreicht! Gerhaher, sein ebenbürtiger Klavierbegleiter und Interpreten-Seelenverwandter Gerold Huber, dazu 28-mal Brahms, feinster Brahms und nichts als Brahms, von jung bis reif.

„Kommunikationsvermittlung halte ich für das vielleicht wichtigste Kriterium von Kunst“, hat Gerhaher gerade in einem „Opernwelt“-Interview seine Tätigkeit beschrieben. Genau so war diese Werkschau zu verstehen – als unmittelbares Austauschen über Text, Klang und Sinn dieser Miniaturen vor aufmerksam mitdenkendem Publikum, trotz der mitunter graumelierten Lyrik-Formulierungen. Von einer Liedgruppe lässt sich so deutlich mehr übers Leben lernen als von drei Netflix-Serien hintereinander. Jedes der handverlesenen Lieder wurde durch diese respektvolle Wertschätzung zu kleinen, unmittelbaren Einblicken in die von ihnen besungenen Seelen und Herzen, holte sie ins Hier und Jetzt. „Die Person des Darstellers“, betonte Gerhaher dazu, „ist in meinen Augen am Ende idealerweise so flach wie ein Stück Papier.“

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So viel nur zur Vorab-Einordnung des gebotenen Niveaus, bevor der erste Ton zu hören war. Denn Gerhaher fing eben nicht mit einem amtlichen Erdbeben an, um sich von dort langsam zu steigern, er kam mit dem naiv unscheinbaren Liedchen „Sehnsucht“ ins Rampenlicht; doch schon dort, bei der interessanten Akkord-Rückung über dem letzten „Schatz“ ließ Gerhaher die erste von etlichen faszinierenden Farbnuancen kurz aufleuchten. Ein Wort nur, lediglich eine Silbe. Und dennoch: alles drin.

Wer schreit, hat Unrecht, heißt es, zu Recht. Gerhaher dagegen ist groß im Understatement, als ein Feindynamiker, der sich seine Fortes gut einteilt, dem jedes frontale Übertreiben auf so kleiner Fläche wie einem einzelnen Lied-Notenblatt mächtig widerstrebt. Und mit Huber am Flügel hinter sich hatte er einen Mitgestalter, der ebenso maßgenau auf Beachtung der kleinen Unterschiede achtete.

Neun panisch depressive Lieder waren das dunkle Herz dieses Recitals

Interessant, also besser: Noch eindringlicher wurde es, wenn Gerhaher sich bis in die Nähe des Rezitierens auf den von Brahms vorgeschriebenen Tonhöhen zurücknahm, wie in Fallerslebens „Von ewiger Liebe“, mit einem „Dunkel“ als erstes Wort, das tatsächlich matt und finster schimmern konnte. In „Vom verwundeten Knaben“ ließ Gerhaher der letzten Trauer-Zeile noch einen fast – aber eben nur fast – unhörbaren Seufzer folgen.

In „Wie rafft ich mich auf“, dem ersten der immer finsterer werdenden „Neun Lieder und Gesänge“ op. 32, ließ Huber das Ende seiner Einleitungsphrase stumpf und wie entlebt zu Boden fallen, bevor Gerhaher die Qualen einer einsamen Nacht besang. Noch fahler und morscher geriet „Nicht mehr zu dir zu gehen“, eine schwer lebensmüde Borderliner-Angelegenheit, aber die neun panisch depressiven Lieder bildeten ohnehin das dunkle Herz dieses Recitals.

Nach der Pause ging es eher zurück in romantische Herz-Schmerz-Sonnenuntergang-Tränenmetapher-Gegenden. In das Wort „Frühlingsabenddämmerung“ im „Geheimnis“ zauberte Gerhaher eben das hinein, er beschwor silberne Monde und heiße Tränen, befragte verzweifelt lächelnde Bilder, wanderte über einen Friedhof, durch den Herbst, durch den kühlen Wald und beendete seinen Auftritt, immer Glück suchend, mit einem letzten, kleinen Lächeln. Alles gesungen, alles damit gesagt.

Sie haben diesen sensationellen, erschütternd guten Abend verpasst? Ihr Leben ist deswegen nun tatsächlich leider um 28 Brahms-Lieder und zwei Zugaben ärmer.

CDs: Gustav Mahler „Das Lied von der Erde“ Christian Gerhaher, Piotr Beczala, Gerhard Huber (Sony Classical, CD ca. 15 Euro). Schumann „Alle Lieder (Sony Classical, 11 CDs ca. 58 Euro). Buch: „Lyrisches Tagebuch: Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm“ (C.H. Beck, 334 S., 25 Euro)