Hamburg. Lessingtage: Im Thalia-Nachtasyl reden Kübra Gümüşay und Maja Göpel miteinander. Leider passieren dabei sogar Momente der Fremdscham.

„Ich habe mir vorgenommen, ehrlich zu sagen, was ich wahrnehme“, meint Maja Göpel. „Aber ich sage es freundlich – und das wirkt!“ Womit sich die Transformationswissenschaftlerin als perfekter Gast für die erste Ausgabe von „Utopia Talks“ empfiehlt, eine neu entwickelte Gesprächsreihe mit Kübra Gümüşay in der Thalia-Theaterbar Nachtasyl. Hier soll es nicht darum gehen, sich aggressiv Argumente an den Kopf zu schmeißen, sondern darum, dass man im freundlichen Austausch über eine bessere Welt nachdenkt, dass man Utopien entwirft. Nett statt laut, empathisch statt aggro. Klingt toll.

Göpel und Gümüşay im Nachtasyl: ein so sympathisches wie fruchtloses Bestätigen der eigenen Nettigkeit

Erweist sich aber bei der ersten Ausgabe zum Abschluss der Lessingtage als entsetzlich öde. Gümüşay („Sprache und Sein“) ist eine scharfe Denkerin und als Gastgeberin ein gewinnender Charakter, Göpel eine kluge Wissenschaftlerin, die es versteht, komplizierte ökonomische Sachverhalte allgemeinverständlich auf den Punkt zu bringen, eigentlich könnten die beiden tatsächlich die Knackpunkte der Gegenwart herausarbeiten. Aber: Zwischen die Gesprächspartnerinnen passt kein Blatt Papier, eine echte Diskussion entwickelt sich nicht, stattdessen ein so sympathisches wie fruchtloses Bestätigen der eigenen Nettigkeit.

Was natürlich Konzept ist: Gümüşay will eine gute Gastgeberin sein, sie will, dass Göpel sich wohl fühlt und das Publikum gleich mit. Also werden den Zuschauern zu Beginn türkischer Tee und Nüsschen gereicht, also läuft sanfter Loungepop, also ist das Licht gedimmt, also lümmeln die Protagonistinnen zwischen einem reizend selbst gemacht wirkenden Quallenmobile. Ein Wohlfühltalk, der zudem ziemlich ausufert: Beide Gesprächspartnerinnen hören sich gerne reden, Widerworte gibt es nicht, am Ende nähert sich die Dreistundengrenze.

Maja Göpel (hier ein Archivbild) ist sicher: „Jede Revolution beginnt mit dem Singen im Chor“
Maja Göpel (hier ein Archivbild) ist sicher: „Jede Revolution beginnt mit dem Singen im Chor“ © imago images/Future Image | IMAGO stock

Fast eine Provokation, wenn Gümüşay Göpel auf ihre Kindheit anspricht

Diese forcierte Harmonie setzt sich dann auch in den Beispielen für utopische Ideen fort. Göpel stellt die Kreislaufplattform „CircularOWL“ aus ihrer ostwestfälischen Heimat vor, Gümüşay kontert norddeutsch mit „Kebap“ („Kulturenergiebunker Altona Projekt“) und dem Lebens- und Wohnprojekt „Wir bauen Zukunft“ aus Mecklenburg – alles total ehrenwerte Konzepte, die die Welt zweifellos besser machen, aber eben vor allem auch Konzepte, die als Erfolgsmodelle unglaublich langweilig sind. Da ist es fast eine Provokation, wenn Gümüşay Göpel auf ihre Kindheit in einer alternativen Lebensgemeinschaft anspricht: Ob sie sich so etwas heute immer noch vorstellen könne? Worauf die Gefragte ausweichend antwortet: Wünschenswert sei das sicher, aber irgendwie passe es einfach nie, heute lebe Göpel ganz traditionell in einer Wohnung im Berliner Umland. Kein Dissens, keine Kontroverse, nirgends.

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Dabei gäben die Verwerfungen der Gegenwart durchaus Anlass, Utopien auch mal zu hinterfragen. Zumal gerade Gümüşay selbst Teil dieser Verwerfungen ist: Angesichts des Hamas-Terrors gegen die israelische Zivilbevölkerung sprach sie von einem „Genozid“, den Israel im Gazastreifen begehe, weswegen ihr Antisemitismus vorgeworfen wurde. Im Nachtasyl aber kein Wort davon, Gümüşay erwähnt einmal beiläufig ihre israelischen Freunde. Bloß keine Disharmonie.

Gipfel des Fremdschämens: Immer wieder wird das Publikum aufgefordert, gemeinsam zu singen. „Jede Revolution beginnt mit dem Singen im Chor“, sagt Göpel – womit aber nicht gemeint ist, dass man wie hier in einer Fantasiesprache vor sich hinsäuseln sollte. Revolution, gut und schön, aber Marx rotiert bei diesem Gesang im Grab.