Hamburg. Bei den Lessingtagen am Thalia gastierte das niederländische NTGent mit einem aktuellen Thema. Manchmal belehrend, aber begeisternd.

In Hamburg dürfte kaum jemand die Landlosenbewegung Brasiliens kennen. Der Schweizer Theatermacher Milo Rau hat sich mit den Aktivisten im Amazonasgebiet zusammengetan, um eine ganz eigene Geschichte der „Antigone“ auf der Folie des antiken Klassikers von Sophokles zu erzählen. Der Theaterabend „Antigone im Amazonas“ vom NTGent, der derzeit bei den Lessingtagen im Thalia Theater gastiert, funktioniert in seinem Bezug auf Geschichte und Gegenwart eines anderen Kontinents erstaunlich gut.

Sara De Bosschere als Kreon, Frederico Araujo als Antigone und Arne De Tremerie als ihr Verlobter Haimon stehen auf einer sandigen Thalia-Bühne. Flankiert werden sie vom Gitarristen Pablo Casella. Jeder von ihnen wird mal zum Erzählenden, wenn De Bosschere etwa von Fahrten im Tourbus durch staubige Dörfer am Amazonas erzählt. Dann wieder werden sie zu Tragödienfiguren im erstaunlich gut getimten Wechsel mit einer Filmebene.

„Antigone“ am Thalia: Tragödie geht nicht gut aus, doch in der Gegenwart wird weitergekämpft

Dort wird ein Massaker aus den 1990er-Jahren in Brasiliens politisch gewalttätigstem Bundesstaat Pará nachgestellt, bei dem 19 Menschen der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST) durch Schüsse der Militärpolizei starben. Es wird zur Allegorie des Bürgerkrieges, bei dem Antigones Brüder Polyneikes und Eteokles umkommen. Doch während Thebens Herrscher Kreon Eteokles ein Begräbnis gewährt, soll dies Polyneikes, den er für einen Verräter hält, verwehrt bleiben. Dagegen begehrt Antigone auf.

Film und Theater greifen bei „Antigone in Amazonas“ am Thalia Theater perfekt ineinander.
Film und Theater greifen bei „Antigone in Amazonas“ am Thalia Theater perfekt ineinander. © Kurt Van der Elst | Kurt Van der Elst

Auf der Filmebene folgt Kay Sara als indigene Antigone – stellvertretend auch für die ökologischen Anliegen der Landarbeiter – ihrem Gewissen und nicht dem herrschenden Gesetz und hebt ein Grab für den Bruder an einer Straßenbrücke aus.

Sie steht bei Rau und seinem Team auch für ein Leben im Einklang mit der Natur. Die Kamera folgt ihr in einer gemächlichen Flussfahrt durch sattes Grün bis in ein Dorf, in dem eigene Gesetze herrschen. Kreon dagegen verkörpert das neoliberale kapitalistische System.

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Die Tragödie geht bekanntlich nicht gut aus, doch in der brasilianischen Gegenwart wird der Chor der MST weiterkämpfen. Ein Abend mit kraftvoller Botschaft, der trotz der antiken Erkenntnis, dass nichts ungeheurer ist als der Mensch, auch Hoffnung weckt.

Rau und seinem Team gelingt eine eindringliche Tragödienüberschreibung, die die Bedeutung des antiken Stoffes durch die Anbindung ans Dokumentarische ganz dicht an die Zuschauer heranrückt – manchmal unnötig belehrend, mitunter bis zur Schmerzgrenze, dennoch sehenswert. An diesem Mittwoch gibt es eine weitere Vorstellung.

Milo Rau/Landlosenbewegung MST/NTGent: „Antigone im Amazonas“24.1., 19.30 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44;www.thalia-theater.de