Hamburg. Die Hamburgerin Kübra Gümüsay beleuchtet in ihrem Buch die Macht der Sprache und Provokationen von Rechtsaußen.
Mit einem Stück Kuchen sitzt Kübra Gümüsay im Lokal „Sein.“ in Altona, die Tische ringsum voller Menschen, die sich angeregt unterhalten. Ein passender Ort für ein Gespräch zu ihrem ersten Buch. „Sprache und Sein“ ist vor Kurzem erschienen, steht auf der „Spiegel“-Bestsellerliste, viele Termine reihen sich bei der Hamburgerin gerade aneinander.
Ein schöner Trubel, den sie mit Vorsicht genießt, wie sie sagt. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet Gümüsay bereits als Autorin und Journalistin, vor allem zu den Themen Politik, Feminismus, Rassismus und Netzkultur. Sie ist Mitgründerin des Co-Working Space „eeden“ im Schanzenviertel sowie verschiedener Kampagnen wie #ausnahmslos und #schauhin. Im Abendblatt-Interview spricht sie über die Grenzen der Sprache – und ihre Möglichkeiten.
Hamburger Abendblatt: „Wir spüren die Mauern und Grenzen der Sprache erst, wenn sie nicht mehr funktioniert“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Wann war es für Sie das letzte Mal der Fall, dass die Sprache nicht ausreichte?
Kübra Gümüsay: Ich erlebe das immer wieder, wenn man Wörter in anderen Sprachen kennt, die es im Deutschen nicht gibt. Kürzlich sprach ich mit einer Freundin über das türkische Wort „muhabbet“. Es beschreibt eine zugewandte Beziehung zwischen zwei Menschen, die durch ein Gespräch entstehen kann: „dein muhabbet ist schön“, „das Gespräch mit dir ist schön“. Aber es gibt auch Situationen, für die es gar kein Wort gibt, in keiner mir bekannten Sprache. Zum Beispiel, wenn man in einen Raum kommt und spürt, dass hier gerade gelacht wurde, und die Emotionen noch im Raum stehen. Es gibt kein Wort für dieses Gefühl, das Schöne, das Leichte. Das Spannende ist, wenn es diese Worte nicht gibt, dann kann man sie in der Gestaltung des Lebens weniger gut berücksichtigen.
„Sprache kann unsere Welt begrenzen – aber auch öffnen“, schreiben Sie. Sie sprechen drei Sprachen: Deutsch, Türkisch und Englisch. Ist Ihre Welt eine ziemlich große?
Gümüsay: Ja. Und zugleich spürt man die Begrenztheit der jeweiligen Sprachen viel stärker. Für mich ist die deutsche Sprache die, an die ich die höchsten Ansprüche habe, weil sie die Sprache ist, die ich am allermeisten verwende, in der ich mich am ehesten zu Hause fühle. Aber ich fühle mich nicht in meiner Vollständigkeit zu Hause.
Als mehrsprachige Mutter beschreiben Sie, dass Ihr Sohn auf Türkisch geschlechterneutral spricht, Sie ihm auf Deutsch aber natürlich auch „er, sie, es“ – also Kategorien – beibringen müssen. Auch so ein Punkt, an dem die Sprache nicht ausreicht, um alle Facetten des Lebens abzubilden?
Gümüsay: Ja, für mich war das eine fast bittere Erfahrung, als ich das mit meinem Sohn reflektiert habe. Weil ich ihm zunächst einmal Kategorien beibringen muss, um ihm dann das Verlernen beizubringen. Meinen Frieden konnte ich damit schließen, als ich an meine eigene Kindheit gedacht habe: Die Dinge, die wir für wahr gehalten haben, bis uns jemand eröffnet hat, dass es nur die halbe Wahrheit war. Wie der Moment in der fünften Klasse, wenn man erfährt, dass fünf minus neun doch geht und wir vier Jahre lang belogen worden sind (lacht). Ich glaube, das müssen wir uns erhalten. Dass alle Kategorien und Wahrheiten, die wir präsentiert bekommen, Möglichkeiten sind, uns durch die Welt zu tasten. Aber dass sie beschränkte Werkzeuge sind, die wir stets hinterfragen müssen.
In der aktuellen politischen Diskussion könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich Menschen eher nach einfachen Wahrheiten sehnen.
Gümüsay: Ich glaube nicht, dass sich Menschen danach sehnen. Ich glaube, dass diese einfachen Antworten stärkere Emotionen erzeugen und deshalb mehr Aufmerksamkeit bekommen und wir uns stark an ihnen orientieren. Aber nicht, weil es in der menschlichen Natur liegen würde, die Welt nur in Schwarz-Weiß zu betrachten. Wir haben die Fähigkeit, Dinge komplex zu betrachten. Viele der Probleme, die wir haben, liegen nicht daran, dass Menschen schlecht oder unfähig oder widerwillig wären. Wir leben in einer Kultur, die Abgebrühtheit mehr und das Erhalten von Neugier und Perspektivbewusstsein weniger belohnt. Es gibt Menschen, die glauben, alles bereits gesehen zu haben, alles zu wissen, alles klar kategorisiert zu haben. Und das sind dann Menschen, die sich bedrohter fühlen, wenn jemand eine neue Perspektive einbringt.
Sie halten regelmäßig Reden auf Konferenzen wie den TEDx Talks oder der re:publica. Welchen Wert hat für Sie das öffentliche Sprechen?
Gümüsay: Ich empfinde Vorträge und das semi-öffentliche Sprechen als unheimliches Privileg, weil man mit 50, 100, 800 Menschen ins Denken kommen darf. Das Spannende fängt für mich an, wenn die Diskussion beginnt, wenn die unterschiedlichsten Perspektiven einwirken können auf die Entwicklung eines Gedankens. Mein Buch habe ich selbst geschrieben, aber am Entwicklungsprozess waren Hunderte von Menschen beteiligt. Ob das nun verstorbene Menschen sind, deren Bücher ich gelesen habe, ob das Menschen sind, die Texte gegengelesen haben, aber auch ein Publikum, vor dem ich Gedanken ausprobieren durfte. Jede Perspektive ist so, als würde man ein Licht heller dimmen, und irgendwann beginnt man den Raum zu sehen.
Bereits vor zwei Jahren sagten Sie in einer Rede, dass Medien und Gesellschaft konstant auf Provokationen von rechts reagieren – dass wir uns vorschreiben lassen, womit wir uns beschäftigen. Ein großer Teil dieser Rede findet sich jetzt in Ihrem Buch wieder. Hat sich seit 2018 so wenig geändert?
Gümüsay: Ich würde sagen, dass sich mehr Menschen dieser Destruktivität bewusst sind, und dieses Spiel in der Form nicht mehr mitspielen möchten. Aber nach wie vor funktionieren diese Mechanismen. Und nach wie vor mangelt es an öffentlichen Räumen, in denen wir die vielen Probleme unserer Gesellschaft konstruktiv und zugewandt miteinander diskutieren können. Indem wir die Verantwortung der Lösung von Problemen ständig einzelnen Gruppen zuschieben, statt sie als gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu betrachten, blockieren wir Lösungen. Diese Entwicklungen sind aber kein individuelles, sondern ein strukturelles Fehlversagen.
Wie kann man das lösen?
Gümüsay: Es braucht neue Orte, Räume und Formate für gesellschaftliche Diskurse, die andere Parameter haben. Nicht wie üblicherweise: „Ich muss mich selbst darstellen, mich behaupten, um die Gunst des Publikums buhlen“. Sondern: „Ich darf Fehler machen, weil Fehler ein Erkenntnisgewinn sind. Und wenn ich einen Fehler mache, gewinnen alle“. Wenn wir mit so einem Bewusstsein in öffentliche Gespräche, Dialoge und Diskurse gehen würden, könnten wir weiterkommen.
Buch Kübra Gümüsay: „Sprache und Sein“, Hanser Berlin, 208 Seiten, 18,- Gespräch Am 7. April, 19.30 Uhr, stellt die Autorin ihr Buch mit Robert Habeck im Thalia Theater vor, Tickets ab 15 € auf thalia-theater.de