Hamburg. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, das Kunstspiel zum Mitmachen. In dieser Woche geht es um „Gespensterwald“ von Andreas Mühe.

Es ist noch gar nicht so lange her, da erregte eine kleine Ausstellung in der neu eröffneten Capitis-Galerie von Anatol Kotte in der Neustadt Aufsehen. Der Berliner Fotograf und Künstler Andreas Mühe, geboren 1979 in der damaligen Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), hatte hier „Mischpoche“ gezeigt – nichts weniger als eine komplexe Familienausstellung, samt Wiederbelebung Toter, rund um seine berühmten Eltern, Intendantin Annegret Hahn und Schauspieler Ulrich Mühe. Mühe mag es, mit seiner Kunst Reibung zu erzeugen, zu provozieren.

In der Ausstellung „Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit“ in der Galerie der Gegenwart ist der Künstler mit zwei großformatigen Fotoarbeiten im oberen Teil mit den zeitgenössischen Werken vertreten: „Kreidefelsen“ und „Gespensterwald“, beide aus der Serie „Neue Romantik“ von 2014/15.

Das Erste, eine Adaption von Friedrichs berühmtem „Kreidefelsen auf Rügen“, spielt auf die Szenerie an, nur mit anderem Personal. Statt der bekannten Rückenfiguren ist es Mühes nackter Körper, den man von hinten sieht. Eine Hand hält er dabei so vor den Körper, als würde er in den Abgrund pinkeln. Was wieder eine bewusste Irritation der vertrauten Sehgewohnheit darstellt.

Andreas Mühe, „Gespensterwald“, aus der Serie „Neue Romantik“, 2014/15, C-Print, 220 mal 175 Zentimeter, Leihgabe des Künstlers.
Andreas Mühe, „Gespensterwald“, aus der Serie „Neue Romantik“, 2014/15, C-Print, 220 mal 175 Zentimeter, Leihgabe des Künstlers. © Andreas Mühe | Andreas Mühe

In „Gespensterwald“ werden zwei signifikante Motive der deutschen Romantik aufgegriffen, die auch bei Caspar David Friedrich immer wiederkehren: der Wald und der Mond. Doch bekommen sie bei Mühe eine unheimliche Note: Der Mond scheint voll und fahl zwischen den kahlen Ästen hindurch. Die Szenerie wirkt total unbelebt. Nur eine winzige Figur ist bei genauerem Hinsehen auszumachen. Wieder ist es der Künstler, der sich hier selbst inszeniert. Dieses Mal blickt er nicht – wie Friedrichs Figuren – versonnen aufs Meer oder in den Himmel, sondern auf seinen nackten Unterleib.

Hamburger Kunsthalle: Als hätte der Maler Caspar David Friedrich selbst auf den Auslöser gedrückt

Die fast schon theatralisch inszenierten Fotografien entstehen mit analoger Kamera. Dadurch ist eine aufwendige Vorbereitung notwendig. „Selbst bei Außenaufnahmen setzt Mühe künstliches Licht ein, und im Fall der Kreidefelsen nutzte er einen Spiegel, der das Licht der aufgehenden Sonne auch auf seinen Rücken lenkt. Er vergleicht sich dabei mit einem Bildhauer, der „das Licht mitdenkt“, wenn er eine Skulptur schafft, wobei der Einsatz des Lichtes gleichzeitig dazu beiträgt, ‚trügerisch ästhetisierte Bildwelten‘ zu schaffen“, schreibt Petra Bassen im Ausstellungskatalog.

podcast-image

In den Werken Friedrichs sehe er die Sehnsucht nach der Einheit von Mensch und Natur. Seine Entblößung kann vor diesem Hintergrund als Verletzlichkeit in der übermächtigen Landschaft gedeutet werden. Oder sogar als Verzweiflungstat: Im Angesicht der Verantwortungslosigkeit der Menschen gegenüber der Natur habe er sich „auch schon protzig und nackt in die Nähe des Kreidefelsens auf Rügen gestellt, eine Landschaft, die Caspar David Friedrich gehört“, zitiert Bassen Mühe.

Mehr zum Thema

Bei aller Provokation haben die Bilder eine Atmosphäre, die einen in ihren Bann zieht, ebenso wie es der bedeutende Romantik-Maler vermochte. „Kreidefelsen“ und „Gespensterwald“ wirken ein bisschen so, als hätte Friedrich auf den Auslöser gedrückt. Nur dass er sich vermutlich niemals nackt präsentiert hätte.