Hamburg. Herkunft von „Junges Mädchen“ wird seit drei Jahren untersucht. Der Erbe des jüdischen Unternehmers Robert Graetz fordert es zurück.
Ein junges Mädchen wird im seitlichen Profil dargestellt, sein blondes Haar ist zu einem Zopf gebunden, den Kopf schmückt eine Perlenkette. In der einen Hand hält es ein Gänseblümchen. Das Mädchen blickt geradeaus, sein Gesichtsausdruck wirkt gleichmütig, nur die Mundwinkel sind leicht nach oben gezogen. Das 28,5 mal 25 Zentimeter große Porträt „Junges Mädchen“, das in der Abteilung Klassische Moderne in der Hamburger Kunsthalle ausgestellt ist, würde den meisten vermutlich kaum auffallen. Und doch ist um das Bild von Paula Modersohn-Becker (1876–1907) eine ernste Debatte entbrannt. Es steht im Raum, dass das Museum es nicht rechtmäßig in seiner Sammlung aufbewahrt.
„Das Gemälde stammt aus der Sammlung Robert Graetz“, schreibt der Berliner Rechtsanwalt Ewald Volhard in einer Stellungnahme, die dem Abendblatt vorliegt. Seine Kanzlei wurde von dessen in Argentinien lebenden Enkel Roberto Graetz beauftragt, die Sammlung zu rekonstruieren und zum Verbleib vermisster Werke zu forschen. Robert Graetz war ein jüdischer Kaufmann und Textilunternehmer, der in Berlin-Grunewald wohnte und dort eine wertvolle Kunstsammlung aufgebaut hatte. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, musste sich Robert Graetz von einem Großteil seines Besitzes trennen, auch von vielen Kunstwerken. Im April 1942 wurde er deportiert; danach verliert sich seine Spur. Die Familie geht davon aus, dass er von den Nationalsozialisten ermordet wurde.
Hat die Kunsthalle zu Unrecht ein Gemälde von Paula Modersohn-Becker?
Volhard schreibt, dass Robert Graetz 1934 Betty Haas heiratete, die ihren Sohn Werner Haas (geboren am 29. Oktober 1925, heute wohnhaft in Christchurch, England) mit in die Ehe brachte. Dieser verließ als 14-jähriger Berlin 1939 mit einem der letzten Kindertransporte. „Werner Haas hat nach Vorlage von 19 fotografierten ‚Mädchenportraits‘ Modersohn-Beckers Gemälde als dasjenige identifiziert, das in seinem Jugendzimmer in der Villa Graetz hing“, so der Anwalt. Er sei Zeitzeuge und nicht Erbe, verfolge also kein eigenes wirtschaftliches Interesse.
Wie aber soll das Gemälde in die Kunsthalle gelangt sein? Sucht man in der Sammlung online nach der Moderne-Künstlerin, werden insgesamt fünf Werke aufgeführt. Unter „Junges Mädchen“ findet sich zunächst die Angabe, dass Elsa Doebbeke das Bild (Mischtechnik auf Eichenholz, um 1901) aus dem gemeinsamen Besitz mit ihrem Mann, Conrad Doebbeke, der Kunsthalle am 14. 7. 1958 schenkte, und weiter: „Bislang unbekannte Provenienz/en“. Es ist also unklar, woher Conrad Doebbeke das Gemälde bekam. Bekannt ist aber, dass der Kunstsammler und -händler seit 1931 NSDAP-Mitglied war und, als 1944 abzusehen war, dass Deutschland den Krieg verlieren würde, seine Schätze in mehrere Museen bringen ließ, unter anderem nach Darmstadt, Detmold, Bremen, Hannover und Hamburg.
Conrad Doebbeke machte keinen Hehl daraus, mit Kunst aus NS-Raubgut zu handeln
Ein „Zeit“-Artikel vom 31. März 2020 mit dem Titel „Der Preis war ganz niedrig“ beschreibt Doebbekes Praxis: „Vier Jahre später begann er damit, seinen Bilderschatz zu Geld zu machen. In Ferdinand Stuttmann, dem Direktor des Landesmuseums Hannover und ebenfalls ehemaligem NSDAP-Mitglied, fand er einen willigen Partner. (...) 1949 erwarb er etliche Bilder von Doebbeke, obwohl dieser keinen Hehl daraus machte, dass es sich um NS-Raubkunst handelte.“ Dies legt zwei Vermutungen nahe: Dass auch „Junges Mädchen“ NS-Raubgut war und, dass der damalige Kunsthallen-Direktor Alfred Hentzen ebenso wie sein Kollege Stuttmann Nutznießer der NS-Kunstpolitik war.
Unter Punkt 3) in der auf der Kunsthallen-Website dokumentierten Provenienzgeschichte wird über ein Schreiben vom 1. Juli 1958 berichtet, das Alfred Hentzen an den Sohn des Ehepaares Tomy C. Doebbeke in Berlin sandte. „Daraus ist zu entnehmen, dass C. Doebbeke eine nicht näher genannte Anzahl von Kunstwerken aus seiner Sammlung bislang in der Hamburger Kunsthalle als Leihgabe deponiert hatte.“ Unter Punkt 4) wird ergänzt: „Hentzen bedankt sich in dem unter 3) beschriebenen Brief an Tomy C. Doebbeke für das Geschenk.“
Für Roberto Graetz ist eindeutig, dass es sich dabei um das Gemälde aus dem Besitz seines Großvaters handelt, weshalb sich sein Vertreter bereits am 3. Dezember 2020 mit einem Restitutionsbegehren an die Kunsthalle wandte.
Dem widerspricht die Paula Modersohn-Becker-Stiftung in Bremen vehement: „Über dieses Bild haben seit 2020 sowohl die Hamburger Kunsthalle als auch die Paula Modersohn-Becker-Stiftung in ihrem Archiv eingehend geforscht“, sagt der Vorsitzende Wolfgang Werner. Das Bild der Sammlung Graetz mit dem Titel „Mädchen“ von 1904 sei im April 1928 unter der Kat. Nr. 122 in der Ausstellung „Neuere Deutsche Kunst aus Berliner Privatbesitz“ in der Nationalgalerie gezeigt worden. „Weiter erinnert die Tochter von Robert Graetz, Hilda Ruschkewitz (Rush), in einer eidesstattlichen Erklärung vom Oktober 1954, dass es sich um ein doppelseitig bemaltes Kinderbild gehandelt habe. Das nur einseitig auf Holz gemalte Bild ‚Kopf eines Mädchens mit Perlenkette im Profil nach rechts‘ aus dem Jahre 1901 der Hamburger Kunsthalle scheidet damit aus.“
Corona-bedingte Schließung von Archiven verzögerte die Erforschung
Allerdings weist Anwalt Ewald Volhard darauf hin, dass laut Untersuchungen dieses Gemälde früher doppelseitig bemalt war. „Es wurde – nach Angabe der Hamburger Kunsthalle – spätestens 1913 getrennt, die ‚Rückseite‘ ist in Hannover.“ In der Provenienzhistorie auf der Website der Kunsthalle mit Bezug auf den Hentzen-Brief steht, dass das „Werk vom hauseigenen Restaurator behandelt werden würde, in dem die Pappe vom Untergrund gelöst werde und somit die Schäden beseitigt werden können“. „Auffallend ist, dass die Hamburger Kunsthalle sich trotz dieser Tatsachen weigert, das Gemälde zu restituieren. Das Mindeste, was man erwarten darf, ist eine sachliche Auseinandersetzung . Hier wird aber vonseiten der Hamburger Kunsthalle nur geschwiegen“, so Volhard.
„Junges Mädchen“ befindet sich in der Kunsthallen-Sammlung. Bis zur Gründung der Stiftung Hamburger Kunsthalle 1999 war das Haus staatlich. Daher sind alle Werke (bis auf wenige Ausnahmen) im Eigentum der Freien und Hansestadt Hamburg und werden treuhänderisch von der Stiftung verwaltet. So auch dieses Gemälde. Seit Ende 2020 untersuche die Kunsthalle die „Provenienz und insbesondere die Werkidentität gründlich“, sagt Anja Bornhöft, Referentin an der Behörde für Kultur und Medien.
Angesprochen auf den extrem langen Zeitraum von mittlerweile drei Jahren betont sie, dass „die Aufarbeitung aufwendig und komplex“ sei, „unter anderem, da viele Werke von Paula Modersohn-Becker in der Vergangenheit unterschiedliche Titel getragen haben“. Zudem fehlten oft „aussagekräftige historische Quellen und konkrete Angaben zur Technik, zu den Maßen und den Materialien“. Auch habe die Corona-bedingte Schließung von Bibliotheken und Archiven die Erforschung verzögert. Die Referentin erklärt aber, dass die Kunsthalle ihre Informationen zu dem öffentlich geförderten Forschungsprojekt zur Rekonstruktion der Sammlung Graetz zur Verfügung gestellt habe und im Kontakt mit den Erben-Vertretern stehe.
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Diese haben am 27. November 2023 den Fall bei der Beratenden Kommission NS-Raubgut in Berlin eingereicht. Die Behörde für Kultur und Medien hat der Kommission am 23. Dezember den Beitritt zum Verfahren erklärt. Aus der Kunsthalle heißt es, man warte nun die nächsten Schritte der Kommission ab. Diese sehen nun so aus, dass beide Seiten, also Kunsthalle und Erben-Vertreter, die Möglichkeit bekommen, ihre Sicht der Dinge zu schildern. Nach einer Anhörung vor Ort fällt die Kommission eine Entscheidung und spricht ihre Empfehlung aus. „Als Museum folgt man für gewöhnlich dieser Empfehlung“, sagt Ewald Volhard. Er rechnet mit einem Ergebnis in etwa vier Monaten.
„Wenn sich herausstellt, dass die Erben von Robert Graetz die rechtmäßigen Eigentümer sind, wird Hamburg das Gemälde selbstverständlich restituieren“, sagt Anja Bornhöft. „Generell steht es außer Frage, dass die Provenienz von Raubgut aus NS-Kontexten schnell und gründlich erforscht und Erben bei ihren Anliegen bestmöglich unterstützt werden müssen, damit Restitutionen vereinfacht und Kulturgüter an die rechtmäßigen Erben zurückgegeben werden können.“ Die Stadt befürworte deshalb auch eine grundlegende Reform der Beratenden Kommission mit dem Ziel, diese rechtlich und institutionell so aufzustellen, dass sie zukünftig auch einseitig angerufen werden kann.