Hamburg. Der Schweizer Regisseur gastiert mit brasilianisch-europäischer Produktion bei den Thalia-Lessingtagen. Und kritisiert Privilegien.
Der Schweizer Regisseur Milo Rau geht für sein Theater in die Welt hinaus. Oft dorthin, wo es wehtut. Als Intendant des NTGent hat er das Stadttheater in den Niederlanden grundlegend verändert. Von diesem Sommer an leitet er die Wiener Festwochen. Für den Theaterabend „Antigone im Amazonas“, der an diesem Dienstag und Mittwoch bei den Hamburger Lessingtagen im Thalia Theater gastiert, tat er sich mit der Landlosenbewegung Brasiliens zusammen. Ein Gespräch.
Herr Rau, Sie haben „Antigone im Amazonas“ gemeinsam mit der Landlosenbewegung in Brasilien entwickelt. Wie kam es dazu?
Milo Rau: Wir waren zu Bolsonaro-Zeiten mit zwei Stücken in Brasilien auf Tour: „Die Wiederholung“ und „Mitleid“. In São Paulo gab es einen Fokus auf meine Arbeit, woraufhin die Aufführungen in den anderen Städten untersagt wurden. Die konservativen Bürgermeister wollten diese Stücke über Homosexualität, Postkolonialismus etc. nicht zeigen. In dem Moment kam die Landlosenbewegung, eine Riesenbewegung, die Land besetzt, hat die Stücke angeschaut und gesagt, warum kreieren wir nicht etwas zusammen? Sie hatten bereits mit Augusto Boal gearbeitet, der das ‚Theater der Unterdrückten‘ entwickelt hat. Der ‚Antigone‘-Stoff lag nahe, weil es um das Aufeinandertreffen von einer erdverbundenen, traditionellen politischen Auffassung mit einer rationalen kapitalistischen Logik des Zusammenlebens geht. Auch die gemeinsame chorische Arbeit war für sie als Bewegung extrem wichtig. Ich denke bei Chor an Einar Schleef und trainierte deutsche Stadttheaterschauspielerinnen und -schauspieler, die gleichzeitig sprechen. Das hat etwas vom Ausradieren des Individuellen, während hier eher die Freiheit, der Stolz, die Individualität des Einzelnen die Stärke der kollektiven Stimme ausmacht.
Milo Rau am Thalia: „Antigone ist bei uns eine indigene, antikapitalistische Aktivistin“
Warum haben Sie sich entschlossen, die Probleme der indigenen Bevölkerung, den Raubbau an der Natur und den Wäldern, die kriminellen Machenschaften der Holzfäller auf der Folie des antiken „Antigone“-Stoffes von Sophokles zu erzählen?
Das hat mit dem Vorschlag der Landlosenbewegung (MST) zu tun, den Filmdreh in den Amazonas-Staat Pará zu legen. Nördlich von Eldorado dos Carajás verübten dort am 17. April 1996 zwei Einheiten der Militärpolizei ein Massaker an 19 Mitgliedern der Landlosenbewegung. Das ist bei uns das Bürgerkriegsmassaker, das am Angang der ‚Antigone‘ steht, bei dem ihr Bruder Polyneikes ums Leben kommt und mit seinem Bruder nicht begraben werden darf. Antigone ist bei uns eine indigene, antikapitalistische Aktivistin. Kreon ist nicht eine Art fieser Bolsonaro, sondern die sehr sympathische flämische Schauspielerin Sara De Bosschere – also wir alle. Wir haben versucht, den Konflikt zu öffnen, die Land- und Besitzfrage multiperspektivisch aufzufächern.
Antigone wird im Angesicht des Unrechts der Widerstand zur Pflicht. Sie folgt ihrem eigenen Gewissen und missachtet die herrschenden Gesetze. Gilt das auch für Ihr Verständnis von Theater?
Es gibt verschiedene Arten von Widerstand. Die Landlosenbewegung macht das sehr radikal und ganzheitlich. Der Staat funktioniert in Brasilien für Millionen von Menschen nicht. Also haben sich Hunderttausende von Familien zusammengeschlossen und bewirtschaften besetzte Monokulturen von insgesamt der Größe Belgiens. Der Widerstand, den ich als Künstler in Europa über Theaterprojekte leisten kann, ist natürlich verglichen damit ein symbolischer.
Regisseur Milo Rau: „Dass unsere Theater so schön und warm sind – alles auf Kosten des globalen Südens“
Der Antigone-Text von Sophokles ist mehr oder weniger geblieben?
Ja, viel ist geblieben. Es ist ein kristallklares, sehr klar gebautes Stück. Wenn der Satz: ‚Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch‘ erklingt, dann ist man mittendrin. Auch Lessing war ja ein Visionär der Ausbeutung der Natur durch den Menschen. Sophokles sagt: Der Mensch bändigt alles, sogar die Wellen des Ozeans, aber den Tod kann er nicht bändigen. Denn gegen den Tod gibt es nur die Gemeinschaft der Menschen, die Solidarität für ein anderes Leben, das auch einen anderen Tod ermöglicht.
Nun gastieren Sie mit dem Stück in Hamburg. Reisen Sie noch immer so viel? Ein Kritiker hat Ihnen mal vorgeworfen, eine Art „neokolonialen Elendstourismus“ zu betreiben.
Ich verstehe nicht, warum wir unsere Privilegien nicht nutzen, um sie mit Orten zu teilen, wo es keine oder weniger kulturelle Infrastruktur gibt. Den Kolonialismus gibt es leider sowieso, dass wir hier zusammensitzen und unsere Theater so schön und warm sind – das existiert alles auf Kosten des globalen Südens. Da nicht hinzufahren und gegen diese Ausbeutung eine gelebte und praktische Solidarität zu setzen, fänd ich nicht nur falsch, sondern unverantwortlich. Entscheidend dabei ist, in Kollektiven zu arbeiten – also nicht über jemanden zu reden, sondern gemeinsam in Teams multinationale Projekte zu entwickeln. Im Fall von „Antigone im Amazonas“ bin ich der Juniorpartner, der Hauptproduzent ist die Landlosenbewegung. Alle Autorenrechte gehen an sie. Und ganz grundsätzlich: Der einzige Weg, andere Lebensweisen zu verstehen, ist dahin zu gehen und dort lange zu sein.
Was entgegnen Sie Kritikern, die sagen, dass die Mitwirkenden in Ihren Inszenierungen ihre Biografie einsetzen, damit Sie Aufmerksamkeit für ein Kunstprodukt erreichen?
Das ist alles Teil eines kollektiven Prozesses. Uns geht es in unseren Projekten darum, Wirklichkeit und Mythos zu verbinden, weshalb auch die Biografie oder die Meinungen der Darstellerinnen und Aktivistinnen einen Platz bekommen auf der Bühne. Ich glaube, das Theater muss sich grundlegend ändern. Die Frage ist nicht, wie viele Ensemble-Mitglieder haben einen migrantischen Hintergrund – sondern wie stark nehmen sie teil am Schreiben des Textes. Sind sie wirklich Koautorinnen, oder füllen sie mit ihrem Talent nur ein Regiekonzept aus?
Milo Rau bei den Lessingtagen: „Ich habe in Russland gearbeitet, war viel mit Pussy Riot zusammen“
In ganz Europa sind rechte, nationalistische Parteien im Aufwind. Glauben Sie noch an die Veränderbarkeit der Politik durch die Kunst?
Wir haben auch eine Verantwortung als Zivilgesellschaft. Wie können wir der Ausbeutung des globalen Südens etwas entgegensetzen, ohne dass wir sie noch einmal künstlerisch ausbeuten, sie in der Darstellung der Ausbeutung noch mal kapitalisieren? Das ist ja eine berechtigte Kritik: Ich stecke in diesem performativen Widerspruch, wie alle engagierten Künstlerinnen. Ich glaube, der erste Schritt, um das zu ändern, liegt in der Schaffung neuer Kollektive. Zweitens denken wir strukturell, also wir gehen wirklich in Institutionen rein und sagen, wir verändern die. Und es gibt eine andere Welt, es gibt Bewegungen, von denen wir lernen können: Die Landlosenbewegung wollte zum Beispiel den kollektiven Suizid, der am Schluss von „Antigone“ steht, nicht. Deshalb gibt es ein alternatives Ende.
Ihr im vergangenen September erschienenes Buch heißt „Die Rückeroberung der Zukunft“ – wie kann diese Rückeroberung gelingen?
Mit Demut. Indem wir lernen von Menschen und Bewegungen, die die Zukunft schon zurückerobert haben – oder dabei sind. Ich gebe da viele Beispiele im Buch. Ich habe in Russland gearbeitet, war viel mit Pussy Riot zusammen, die dann später ins Lager kamen. Oder ich war in Süditalien, wo wir „Das neue Evangelium“ gedreht haben und der Aktivist Yvan Sagnet für mich zu einer Vorbildfigur wurde. Oder die Landlosenbewegung: Die haben eine Nation innerhalb der Nation geschaffen, eine Gesellschaft der Zukunft. Ich suche nach Lebensformen der Zivilgesellschaft, die unser absterbendes System von innen her verändern können. Ich glaube, man muss im Kleinen anfangen.
Der Regisseur Luk Perceval sagte kürzlich im Interview: Milo Rau mag eigentlich gar keine Schauspieler. Stimmt das? Und wenn ja, warum?
Ich liebe Luk und seine Arbeit, er war Hauskünstler bei mir am NTGent. Aber er kommt aus einer Generation, in der man als Intendant der Pater Familias war – und dann war das Haus für eine handverlesene Gruppe von Schauspielern da, die eigene Family. Ich bin aber in einer Generation groß geworden, in der das Theater allen gehört. Deshalb haben wir ein sogenanntes „globales Ensemble“ geschaffen mit über 30 Darstellerinnen und allen möglichen künstlerischen Hintergründen. Ich liebe das flämische Text- und Schauspielertheater der 1990er-Jahre, wie es Luk vertritt. Aber das ist nur eine mögliche Ästhetik, es muss Raum für anderes geben. Es ist nicht leicht, Privilegien zu teilen – und das hat zu Konflikten geführt.
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In diesem Jahr verantworten Sie mit den Wiener Festwochen erstmals eines der bedeutendsten europäischen Theaterfestivals. Erste Arbeiten von Florentina Holzinger und Christiane Jatahy wurden bereits angekündigt. Was haben Sie da vor?
Ich versuche gewissermaßen die goldene Mitte zwischen Traditionalismus und Projekt-Theater, Politik und Storytelling. Bei mir stehen deshalb übrigens auch immer Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne von Ursina Lardi über Valery Tscheplanowa bis Sara De Bosschere. Ich darf noch nicht viel verraten, aber ich glaube, man muss darauf schauen, was die Leute sehen wollen. Bei anderen Dingen wiederum ist es wichtig, dass man sich aus dem Fenster lehnt und Dingen Raum gibt, die noch unbekannt sind. Wien hat eine gewaltige Tradition mit Jelinek, Bernhard, Schnitzler, Kraus – und das Gleiche in der Musik. Darauf muss ich natürlich aufbauen. Das Neudenken und Reagieren auf die Klassiker der Moderne wird ganz wichtig werden.
Lessingtage-Gastspiel„Antigone im Amazonas“ 23./24.1., jew. 19.30 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44;www.thalia-theater.de/lessingtage