Hamburg. Vier Ukrainerinnen stranden nach dem russischen Angriff auf ihre Heimat mehr oder weniger zielgerichtet in Europa. Sehr sehenswert.

Menschen im Wartezimmer. Eine graue Betonmauer hat Julia Kurzweg auf die Bühne im Thalia in der Gaußstraße gestellt, erleuchtet von Neonröhren, mit großer, stillstehender Wanduhr. Vier Frauen warten, Ukrainerinnen auf dem Weg nach Westeuropa, mit kleinem Gepäck: ein paar Rollkoffer, eine Rentnerin schleppt zwei Katzen mit, die sie nicht in Tschernihiw zurücklassen wollte. Und alle haben die Widersprüche aus ihrem ukrainischen Leben dabei.

Lessingtage: „Green Corridors“ ist so böses wie kreativ-kluges Theater

„Green Corridors“ bezeichnet die Ausreiserouten, über die Zivilisten nach dem russischen Angriff im Februar 2022 die umkämpften Regionen der Ukraine verlassen konnten. Für die ukrainische Dramatikerin Natalia Vorozhbyt sind diese Routen die Basis für ein Auftragswerk der Münchner Kammerspiele, das in der Inszenierung von Jan-Christoph Gockel zu Gast bei den Lessingtagen in Hamburg ist: das Porträt von vier Frauen, die mehr oder weniger zielgerichtet in Europa stranden.

Da ist die Nageldesignerin aus Butscha (Tanya Kargaeva), die Folter und Vergewaltigung mehr schlecht als recht verarbeitet. Die Hausfrau aus Charkiw (Maryna Klimova), deren Familie im Krieg ausgelöscht wurde. Die Rentnerin (Julia Slepneva), die panische Angst vor der veränderten Umgebung hat. Und: die Schauspielerin (Swetlana Belesova). Die „hat noch nichts Schreckliches erlebt“, ohnehin betont sie, gar nicht auf der Flucht zu sein, sondern dass sie nach Europa wolle, um zu arbeiten. In fließendem Englisch und Deutsch, klar, die Schauspielerin ist Weltbürgerin. Was schnell die Aggressionen ihrer weniger weltläufigen Begleiterinnen weckt.

Die Schauspielerin steht von den Toten auf und ist nervtötender als zuvor

Klingt nach schwerer Kost, ist auch in der Beschreibung der Kriegsgräuel erschreckend drastisch. Und dennoch macht Vorozhbyts Stück, man wagt es kaum zu sagen, großen Spaß. Weil die Autorin einen bösen Humor hat, und weil sie den tragischen Hintergrund ihrer Geschichte immer wieder ins Absurde weitet. Mehrmals wird die Schauspielerin umgebracht werden, jedes Mal steht sie wieder von den Toten auf. Und jedes Mal ist sie nervtötender als zuvor, mit besserwisserischen Tipps für die Integration im Gastland. Zwischendurch schauen Figuren aus der ukrainischen Geschichte vorbei, mit denen man sich auch nicht immer gemein machen möchte: die Schauspielerin Milla Jovovic, die Drohnen per Science-Fiction-Waffen vom Himmel holt. Der Rechtsextremist Stepan Bandera, der im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis paktierte. Oder die Dichterin Olena Teliha, deren Antisemitismus schamhaft verschwiegen wird.

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Wobei die Inszenierung hier zum Theater im Theater wird. Ob man nicht vielleicht doch die Problematik der Figuren ansprechen solle, wird da gefragt, die Souffleuse mischt sich ein, dann der Musiker (Anton Berman) und die Live-Zeichnerin (Sofiia Melnyk), und die Tatsache, dass Schauspieler André Benndorff erkrankt ist, weswegen seine Rollen beim Hamburg-Gastspiel von Regisseur Gockel übernommen werden, ist ebenfalls Gelegenheit für gelungene Hinterbühnen-Gags. Wobei klar wird: Wenn man Diversität möchte, dann holt man sich eben auch diverse Probleme auf die Bühne. Muss man eben aushalten. Wenn das Ergebnis allerdings so böses, kluges, kreatives Theater wie „Green Corridors“ ist, dann ist es das auch wert.

„Green Corridors“noch einmal heute Abend, 22. Januar, 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, im Anschluss Gespräch mit Esther Slevogt (Gründerin und Redakteurin von nachtkritik.de), Tickets unter T. 32814444, www.thalia-theater.de