Hamburg. Gerhard Henschels sagenhafte autobiografische Saga ist bei Band zehn angekommen. Und bei Suff, Sex, „Titanic“-Scherzen – ohne Ende.
„Lustig“ ist die Vokabel, die am allermeisten benutzt wird, wenn es um die Martin-Schlosser-Saga geht. Und man muss das auch lustig finden, insgesamt, in doppelter Hinsicht. Weil die Heldengeschichte des gescheiten Jungen mit den schöngeistigen Interessen, der unter anderem in Meppen aufwuchs und die Perle des Emslands mit enormem Aufwand in der deutschen Gegenwartsliteratur verewigt, halt einfach lustig ist.
Und weil es ohne diesen Fun-Moment auch gar nicht ginge. Knapp 6000 Seiten lang ist der Chronik-Wahnsinn mittlerweile. Amüsement ist nicht das schlechteste Mittel, um die Spannung zu halten. Martin Schlosser ist das Alter Ego des in Bad Bevensen residierenden Schriftstellers Gerhard Henschel, oder wie es im neuen Buch in den Angaben zum Autor heißt: „lebt bei Hamburg“. Henschel ist herumgekommen in seinem Leben, hat viel auf dem Land gelebt, aber halt immer in Metropolennähe. Mitte der 90er-Jahre wohnte er direkt in einer großen Stadt. In Frankfurt am Main. Dort ist die Redaktion des Satiremagazins „Titanic“ zu Hause.
Gemacht wird das seit je von, genau, lustig veranlagten Menschen. Nennen wir sie: Schelme. Der inzwischen zehnte Martin-Schlosser-Roman heißt folglich sehr richtig „Schelmenroman“, er folgt auf den „Schauerroman“, der 2021 erschien. Henschel will schreiben, bis er in der Gegenwart angekommen ist. Da wird er sich anstrengen müssen, es ist viel Lebensmaterial aufgelaufen.
Gerhard Henschel: „Schelmenroman“ ist der zehnte autobiografische Band
In „Schelmenroman“ geht es um die Hallodri-, Satireguerilla-, Suff- und Lustjahre eines Anfangdreißigers, der sich als Satiriker einen Namen machen will. Seine Heroen sind andere Sprachspaßmacher. Im unvergleichlichen Berichtstil, der wahnsinnig trocken immer auf den Punkt kommt, schimpft Henschels Martin Schlosser einmal über eine gerade erschienene „Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart“. Obskure Autoren dabei, die keiner kennt, aber nicht Robert Gernhardt, F.W. Bernstein; Eckhard Henscheid wird nur kurz genannt, die „Neue Frankfurter Schule“ also eigentlich total ignoriert. Und Henschel dann so: „In welchem Paralleluniversum lebten solche akademischen Legastheniker? Hatten sie keine Angst vor dem schallenden Gelächter der Nachwelt?“
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Da wird dann nicht allein der junge Mann Martin Schlosser sprechen, die literarische Figur, die der reale Autor Gerhard Henschel einmal war. Nein, da grollt der alte, inzwischen Ü-60-Schriftsteller aus seiner Schreibstube in Bevensen. Nicht weit weg von der ist der Raum mit den Leitz-Ordnern, der Fundus aus dem Leben Henschels. Bei Henschel ist das alles nie eine Suche nach der verlorenen Zeit, es geht hier nicht um die Madeleine, die nach früher schmeckt. Henschel hat Aktenordner und Notizbücher, alles ist dokumentiert. In tagebuchartiger Form wohl auch allerlei Liebeshändel und erotische Erlebnisse, die der Autor nie verschweigt, ohne je explizit zu werden. Auch in jedem Akt, so scheint es, ist ein Schelm zugange.
Gerhard Henschels „Schelmenroman“: „Ernst Jünger wird heut‘ 100 Jahr‘!“
In „Schelmenroman“ geht es, unter anderem, außerdem um Streiche anlässlich von Ernst Jüngers 100. Geburtstag. Eine Zeitungsanzeige wird geschaltet, „Welt“, „taz“, „Junge Welt“, „Kaum zu glauben, aber wahr: Unser Ernst Jünger wird heut‘ 100 Jahr‘!“ – die erbosten und blöden Anrufe in der „Titanic“-Redaktion werden minutiös geschildert. Von einem stets begeisterungsbereiten, aber vor allem immer redselig-beschwingten Erzähler, für den das Leben eine große Einladung zum geistvollen Kommentieren und Durchdringen der Wirklichkeit ist. Henschels gigantisches Literaturprojekt ist eine groß angelegte Chronik Deutschlands, Kempowski-gleich, eine Bibel für Boomer. Ereignisse der Zeitgeschichte ploppen auf, zum Beispiel die berühmte „Peanut“-Geschichte um den diebischen Baulöwen Jürgen Schneider.
Beschwingt sind die Schlosser-Berichte auch, weil der Genussmensch so gerne dem Alkohol und dem Geschlechtsverkehr frönt. Es ist alles eine große Geselligkeit, mit klugen, witzigen, hellwachen Menschen. Die Probleme sind erst mal marginal, „es bekam mir nicht gut, dass ich auf Rotwein umstieg, als das Bier alle war“. Mit was man sich halt so rumschlug, als man noch jung war. Einmal ist er in Marburg, er braucht neue Klamotten. Frauenberatung inklusive, in Hamburg sage man „Jienshose“, erklärt Fanny, und: „Im Alsterhaus hat neulich übrigens ‘ne Verkäuferin zu mir gesagt: ‚Für die stärkere Dame zweiter Stock‘. Da hatte ich aber ungelogen einundzwanzig Teile an. Schuhe und Socken nur einfach gerechnet ...“
Man liest das wie immer schnell und gebannt, freut sich mit dem Helden über dessen Abenteuer, die oft aus Lesereisen auch an entlegenere Orte bestehen. Man delektiert sich grundsätzlich am reichlichen Auftauchen der realen Personen, hier besonders häufig: der große Wiglaf Droste.
Beinah ernst wird es wie immer dann, wenn es um Familie geht; Henschel ist, auf seine Weise, ja ein unbeirrbarer und verdienstvoller Zeuge der kleinsten Gesellschaftseinheit. Da ist, versteckt im Bericht, Gefühl durchaus eine Kategorie. Oma Jever, wir kennen sie aus den Vorgängerbüchern, wird das Zeitliche segnen in diesem Band. Aber die Zeit wird über sie hinwegschreiten, und ihr Enkel ist es, der mit dieser Zeit real und literarisch immer weitergeht, zum nicht kleinen Pläsier des Publikums.