Der Autor schreibt seit Jahren an seiner Familiensaga. Sie betrifft alle, die in den 60ern geboren sind.
Zu einem Raum, der früher ein Yogastudio war, führt ein schmaler Gang. Der Gang birst vor Geschichte, so, wie die kleine Stube vor Geschichte birst, die zusätzlich von dieser Leitz-Röhre abgeht. Hier ruht, in Hunderten von Aktenordnern, Mappen und Ringbüchern, die Korrespondenz von mehreren Jahrzehnten. Hier ruhen auch Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, es ist eine meterlange Sammlung des Vergangenen.
Ein Archiv in der Lüneburger Heide:
Wir sind zu Hause bei dem Schriftsteller Gerhard Henschel, dem Mann, der in diesen Katakomben der Erinnerung und in seinem literarischen Werk vor allem auch seine persönliche Geschichte und die seiner Familie organisiert. Henschel, 1962 in Hannover geboren, schreibt seit fast anderthalb Jahrzehnten an seiner Martin-Schlosser-Saga. Und dieser Martin Schlosser, den er da in mittlerweile sieben Büchern mit den Titeln „Kindheitsroman“, „Jugendroman“, „Liebesroman“, „Abenteuerroman“, „Bildungsroman“, „Künstlerroman“ und „Arbeiterroman“ mitsamt seiner Familie porträtiert, ist kein anderer als Gerhard Henschel selbst.
Henschels Vorbild ist Walter Kempowski
Was für ein radikales autobiografisches, maßloses Erinnerungsprojekt: die eigene Geschichte aufzuschreiben und gleichzeitig ein Panorama Deutschlands. Eine persönliche Familiensaga, in der die gesamte Sippe vorkommt, allerdings wie die Hauptfigur unter jeweils anderem Namen. Es geht um das Alltagsleben des westdeutschen Mittelstands, um Kinderfreundschaften, Schulerlebnisse, die erste Liebe, Geschwisterhiebe, Omabesuche, Familienfeste, Elternknatsch, Reisen, das Leiden an der Provinz, die Versuche, eine eigene Identität und ein Leben zu finden, das Verlassen des Elternhauses. „Es soll alles schon so nah an der Wahrheit sein wie möglich“, sagt Henschel, der einen bemerkenswerten Glauben an die Erinnerbarkeit von Ereignissen und Lebensläufen hat. Wir werden später darauf zurückkommen.
Seit zwei Jahren leben die Henschels wieder in Klein Bünstorf, einem Minidorf, das keine eigenen Straßennamen hat und zur Kleinstadt Bad Bevensen gehört. Vorher waren sie auch mal ein paar Jahre im Umland von Berlin und davor einige Zeit in Hamburg. Aber mit dem Großstadtleben war es irgendwann vorbei, als Henschel mit seinem autobiografischen Projekt begann.
Der Chronist braucht Platz, den eine typische, bezahlbare Stadtwohnung nicht bieten kann. Beinah jede E-Mail wird ausgedruckt und abgeheftet. Dazu kommen die eigenen Tagebücher, Briefe – und da längst nicht nur die eigenen. Henschel, dessen erklärtes Vorbild Walter Kempowski („Deutsche Chronik“) ist, hat seine Version der deutschen Geschichte einst mit dem Briefroman „Die Liebenden“ begonnen. Er beruhte auf den Briefen seiner Eltern.
Von Schmidt hat Henschel den Humor
All das erzählt er jetzt den Leuten, den Buchhändlern und Journalisten, die er zu sich in die niedersächsische Provinz eingeladen hat. Also dorthin, wo auch Kempowski und Arno Schmidt, ein anderer Hausgott Henschels, im einsamen Winkel der Nation ihr Werk niederschrieben. Von Schmidt hat Henschel übrigens den Humor, aber sein Witz ist viel bodenständiger, direkter und erkennbar daran interessiert, potenziell jeden zu erreichen.
Gerhard Henschel sagt: „Meine Leser gehören nicht nur meiner Generation an, sie sind auch 20 Jahre älter oder 20 Jahre jünger – und alle sagen zu mir: Genau so wie in den Büchern ging es bei uns zu Hause auch zu.“
Eigenwilliges Archiv
Sein Verlag Hoffmann und Campe hat die Bücher Henschels, der sein Handwerk einst auch als Redakteur des Satire-Magazins „Titanic“ lernte, in das Domizil des Autors gekarrt, und man stellt wieder einmal fest, wie dick sie sind. Keines hat weniger als 500 Seiten. Henschel, der ein Nachtarbeiter ist und gern bis in den Morgengrauen schreibt, liefert alle anderthalb Jahre ein neues nach.
Das jüngste heißt nun „Arbeiterroman“. Das passt nicht nur zum Twentysomething Martin Schlosser, der dem Leser diesmal als Malocher auf einer Spedition und Romanschreiber entgegentritt, das passt auch zu Henschel, dessen autobiografischer Fleiß notgedrungen enorm ist. Dichterische Scheu kennt der in Birkenstock durch sein papierenes Reich schlurfende Mittfünfziger, der drei Kinder hat, jedenfalls nicht.
Wer die Leser in seinen Büchern so umstandslos in das eigene Leben und das seiner Sippe lässt, der lädt diejenigen, die zur Verbreitung des Henschel-Werks beitragen sollen, auch bereitwillig ins eigene Heim. Im Wohnzimmer – herrlicher Röhrenfernseher übrigens – steht Obstkuchen, Frau Henschel schenkt Kaffee aus, der Sohn nimmt sich eine Brezel, und im Keller steht Gerhard Henschel und zeigt den Gästen seine größten Schätze: die Herzstücke dieses eigenwilligen Archivs.
Treibgut der Geschichte
Zum Beispiel Beipackzettel von Medikamenten oder Arztrezepte. Es ist berührend, wie Henschel im „Arbeiterroman“ über viele Seiten hinweg das Sterben der Mutter beschreibt. Und dann ist da die „Familienzeitung“, die der Teenager Gerhard herausgab, vielleicht eine Art Urschlamm seiner chronistischen Sammelleidenschaft: Postkarten und Berichte, was bei Henschels und den Anverwandten („Oma Jever“) gerade so los ist. Heute ist für den Zeitreisenden Gerhard Henschel die Erinnerung ein breiter Strom geworden, von dem er sich bereitwillig mitreißen lässt.
Und er fischt unterwegs auf, was ihm an Treibgut der Geschichte entgegenkommt. Seine Eltern hätten selbst immer viel behalten, erzählt Henschel, „und außerdem viel geschrieben“.
Groß angelegte Literatur-Werdung
Wer macht das heute noch? Wer hat es früher tatsächlich gemacht? Es scheint wohl doch eher eine familiäre Besonderheit zu sein, deren idealtypischer Vertreter Gerhard Henschel selbst ist. Die groß angelegte Literatur-Werdung seines Lebens ist gewissermaßen das Gegenstück zur Timeline auf Facebook. Aber wo der große Schriftsteller Uwe Johnson von den „Tricks der Erinnerung“ sprach und dem Gedächtnis misstraute, ist Henschel selbstbewusst. Er verlässt sich außer auf das Archiv auch auf sein gutes Erinnerungsvermögen. Der Autor ist der mächtige Erzähler, der über die eigene Geschichte verfügt, die sich so und nicht anders zugetragen hat.
Dabei ist jede Szene in diesem riesigen Gebirge des Alltäglichen, ist jeder Dialog neben der absoluten Wahrheit auch eine absolute Erfindung. Das Romanhafte der Texte folgt aus den Prinzipien der Raffung, Verdichtung und der dichterischen Freiheit, Lücken zu schließen. Die größten Fans des Gerhard Henschel sind die, die in seinen Büchern vorkommen. Was, siehe Karl Ove Knausgård, nicht vorausgesetzt werden sollte. Der norwegische Literaturstar („Sterben“, „Lieben“) erboste Teile seiner Verwandtschaft derart, dass sie gerichtlich gegen ihn vorgingen. Bei Henschel ist das nicht so, im Gegenteil: Wenn die Verwandtschaft Schriftliches im Nachlass eines Verstorbenen findet, geht es sofort zu Henschel.
Leser haben sofort Verbesserungsvorschläge
Seine ältere Schwester hat ihm ihre Pubertäts- und Liebestagebücher schon zu Lebzeiten längst vermacht. Henschel will im Einvernehmen mit allen sein, die in seinen Büchern auftreten, weshalb er ihnen diese Bücher oder einzelne Passagen vor Drucklegung zu lesen gibt. Oft ist es dann so, erzählt Henschel und lacht, dass die Leser sofort Verbesserungsvorschläge besonders bei Dialogen haben oder ihn zur historischen Wahrheit verpflichten. Nach dem Motto: Das habe doch ich gesagt, nicht du.
„Ich bin der einzige Schriftsteller weltweit, der andere Menschen dazu einlädt, an seinen Büchern mitzuschreiben“, sagt Henschel.
Weigerung, die Konkurrenz zu lesen
Knausgård oder andere Autoren, die derzeit wie er an autobiografischen Zyklen arbeiten, hat er übrigens selbst nicht gelesen. Eine Konstante bei Schriftstellern: diese hartnäckige Weigerung, die Konkurrenz zu lesen. Als entzöge es dem eigenen Tun Energie und Unbefangenheit, wenn man sich anschaut, wie andere es machen.
Henschel findet unbedingt, dass es kein anderes Ordnungsprinzip für die Familiensaga als die Chronologie geben kann. Alles andere, sagt er, „wäre zu viel Kuddelmuddel“. Er hat das Datengerüst, und dann schreibt er seine Geschichte auf, und weil das unterhaltsam sein soll, rührt er den Plot nach einem bestimmten Rezept an. Nie zu viel Kunst oder Politik, die oft die Themen des jungen Schlossers sind oder zumindest in ein Blickfeld geraten, sondern zwischendurch auch mal essen oder spazieren gehen, „so war es ja auch wirklich“.
Immer nur das Früher, das Abgelegte, Vergangene, das Eigene – wird man nicht eigentlich Schriftsteller, um Abenteuer und Welten zu erfinden, die man noch nicht kennt?
„Nein“, sagt Gerhard Henschel.
Paare lesen sich Bücher im Bett vor
Irgendwann während des Gesprächs, in dem Henschel von den nächsten Büchern („Dorfroman“ und „Schauerroman“ sollen sie heißen) berichtet und durchblicken lässt, dass er wohl weitermachen will, solange der Verlag ihn lässt und bis er mit seinen Büchern sich und sein Gegenwartsleben einholt. Irgendwann macht man sich bewusst, was man über diesen Mann alles weiß. Man hat ihn sich erlesen, und man glaubt ganz sicher, dass man in den knapp pointierten, immer optimistisch nach vorne blickenden Antworten Henschels die Spuren der Romanfigur findet mit all ihrem Trockentrotz und ihrer Bockigkeit, die man lieb gewonnen hat.
Famoses Erinnerungswerk
Gerhard Henschel, dieser Schöpfer eines famosen Erinnerungswerks, hat mit jedem Band mehr Fans, ohne dass seine Bücher tatsächlich Bestseller wären. Er erzählt die Biografie all derer, die zur Babyboomer-Generation gehören. Es wären ihm mehr Leser zu wünschen, die mit ihm gemeinsam auf die Suche nach der verlorenen Zeit gehen.
Henschel wäre niemand, der sich beklagt, er hat sie ja, die Momente der Resonanz. Wenn auf einer, „auf jeder“ Lesung, wie Henschel sagt, ein Pärchen auf ihn zukommt. Er weiß dann immer schon, was es sagen wird: dass es sich seine Bücher im Bett vorliest.
Was kann man mehr wollen?
Gerhard Henschel liest am 15. März gemeinsam mit Doris Knecht im Literaturhaus. Rainer Moritz moderiert, Beginn 19.30 Uhr