Hamburg. Der Regisseur inszeniert bei den Lessingtagen Falladas „Wolf unter Wölfen“. Er übt massive Kritik am deutschen Stadttheater-System.

Der belgische Regisseur Luk Perceval ist zurück am Thalia Theater, jenem Ort, an dem er von 2009 bis 2016 Oberspielleiter war, maßgeblich das Ensemble mit aufgebaut hat und mit Inszenierungen, etwa Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ – eingeladen zum Berliner Theatertreffen – Erfolge feierte. Zur Eröffnung des diesjährigen Thalia-Festivals „Um alles in der Welt – Lessingtage 2024“ vom 18 Januar bis zum 4. Februar inszeniert Perceval wiederum Fallada, diesmal „Wolf unter Wölfen“.

Luk Perceval: „Der Druck an den Theatern ist sehr groß geworden“

Herr Perceval, Sie waren von 2009 bis 2016 Oberspielleiter am Thalia Theater. Wie fühlt es sich an, wieder am Thalia Theater zu arbeiten?

Luk Perceval: Einerseits ist es sehr schön, weil man seiner Theaterfamilie wieder begegnet. Wir haben viele schöne Stunden im Probenraum zusammen verbracht. Es war nicht nur Kummer und Qual, es war auch erfreulich (lacht). Es ist, als ob wir erst gestern aufgehört haben. Allerdings merkt man, dass der Druck überall in den Theatern sehr groß geworden ist. Größer noch als vor acht Jahren, als ich weggegangen bin. Zum Vergleich: Für den kürzeren Fallada-Roman „Jeder stirbt für sich allein“ hatten wir damals 13 Wochen Probenzeit, jetzt haben wir nur sieben Wochen. Das ist leider nicht nur ein Problem des Thalia Theaters, sondern ein allgemeines Problem.

Sie haben Hamburg damals vor Vertragsende verlassen, auch weil Sie für das Flämische Nationaltheater eine neue Art von Theater entwickeln wollten. Hat das funktioniert?

Nein, gar nicht. Ich hatte mich mit dem Theatermacher Milo Rau zusammengetan. Es wurde aber ziemlich schnell klar, dass er keine Schauspieler mag. Er hat erst einmal das Ensemble entlassen. Ich bin aber jemand, der Schauspieler braucht und auch liebt. Da sind zwei Sichtweisen des Theaters aufeinandergeprallt. Ich habe mich dann zurückgezogen. Heute arbeite ich an Häusern, an denen es noch Schauspieler gibt, wie am Berliner Ensemble, in Wien, Warschau, Krakau, Oslo oder Hamburg. Ich bin zehn Monate im Jahr unterwegs. Ich wohne aber wieder in Antwerpen, wo meine Familie lebt.

Luk Perceval: „Wo ist noch die Freude, die man braucht zum Kreieren?“

Sie haben bei Ihrem Weggang massive Kritik am System des deutschen Stadttheaters geübt, das sich festgefahren habe. Es ginge nur noch ums Sparen und um Zuschauerzahlen. Wie ist es heute?

Das hat sich leider nicht verbessert. Man hat in der Pandemie die Institute aufrechterhalten, aber nicht den Freiberuflern geholfen. Mit der Energiekrise sind auch die Kosten der Häuser gestiegen – sie werden von Subventionen finanziert –, und man muss mit dem Ticketverkauf die Kunst produzieren. Es wird also noch mehr produziert mit weniger Schauspielern. Am Ende sind die Schauspieler erschöpft. Wo ist noch die Freude, die man braucht zum Kreieren? Und dann versucht man oft mit Tänzchen und Liedchen dem Affen Zucker zu geben. Ich komme aus den 1970er-Jahren, als es Leute wie Peter Brook und Tadeusz Kantor gab, die mit sehr radikalen Formen das bürgerliche Theater herausgefordert haben. Das sieht man kaum noch. Auch im Filmgeschäft ist alles Netflix-kompatibel geworden. Leute wie Tarkovski oder Cassavetes würden heute nicht überleben. Alles wird durch die Logik der Börse bestimmt. Es darf nichts kosten und muss immer mehr Gewinn abwerfen.

Mit „Wolf unter Wölfen“ widmen Sie sich erneut dem Autor Hans Fallada, mit dessen Inszenierungen Sie mit „Jeder stirbt für sich allein“ in Hamburg und „Kleiner Mann – was nun?“ in München große Erfolge gefeiert haben. Was interessiert Sie weiterhin an dem Autor?

Fallada zeigt Deutschland, wie es war in den Zwischenkriegsjahren. Und das interessiert nicht nur die Deutschen. Er zeigt auch ein Land, das in die Knie gezwungen wurde durch eine wahnsinnige Inflation. In den 20 Jahren, in denen ich in Deutschland gelebt habe, habe ich erfahren, wie sehr in Deutschland die Frage lebt, wie es zu dieser unkontrollierbaren Hysterie hat kommen können. Fallada ist einer der Zeitzeugen, die sehr genau beobachtet haben, was auf politischer Ebene, aber auch zwischen den kleinen Menschen passiert ist. Die Gesellschaft, die er zeigt, unterscheidet sich nicht so sehr von unserer. Die Menschen denken nicht an Utopien oder Ideale, sondern daran, wie sie selbst und ihre Liebsten überleben.

Luk Perceval: „Es eine universelle Geschichte, die uns alle berührt“

In „Wolf unter Wölfen“ geht es ja genau um die Sorgen und Nöte des Kleinbürgers. Ist der Mensch des Menschen Wolf in diesen krisenhaften Zeiten?

Mir ist es wichtig, Menschenschicksale zu zeigen. Der Roman hat 1200 Seiten und erzählt eine komplizierte Geschichte zwischen „Peer Gynt“ und „Twin Peaks“. Die Hauptfigur Wolfgang Pagel kommt aus dem Ersten Weltkrieg und fängt als Verlierer an, der manchmal Glück hat beim Spiel, aber sonst hat er nichts, keinen Beruf, kein Geld. Er will seine Freundin heiraten, muss aber erst Geld verdienen, geht hinaus in die Welt und erlebt ein Abenteuer nach dem anderen. Ihn treibt die Suche an nach dem, was seinem Leben einen Wert, einen Sinn gibt. Es gibt eine wunderbare Metapher im Text: „Wir laufen, wir laufen immer weiter, eigentlich um uns selbst zu begegnen.“ Wir sind ständig unterwegs, um Sinn zu finden im Leben. Dadurch wird es eine universelle Geschichte. Eine Geschichte, die uns alle berührt.

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Er wird in zwielichtige Dinge verstrickt. Ist er dennoch ein positiver Held?

Er ist weder ein positiver, noch ein negativer Held. Am Ende ist er ein Mensch, der die Ungreifbarkeit und die Vergänglichkeit des Lebens akzeptieren muss, er steht da, noch immer ohne Geld, aber träumt weiter von einem besseren Leben. Es ist, was es ist. Seine alten Kriegskameraden sind verzweifelte Neurotiker. Meist sind sie auch sehr verletzt vom Leben. Schleppen etwas mit, was sie verdrängen. Es ist ein infernaler Zirkus. Nicht nur in der Stadt Berlin mit ihren Spieltischen, Drogensüchtigen, Prostituierten, Menschen auf der Suche nach dem Glücksmoment. Pagel landet auf dem Land, wo er durch eine Art Initiationsritus geht, aber dort im deutschen Wald ist es auch sehr düster. Die schwarze Reichswehr bereitet einen Putsch vor und vergräbt Waffen und wir wissen ja, wohin der Putsch geführt hat. Es beginnt wie eine Komödie in einem Berlin, in dem alle durchdrehen, dann wird es düster, ein Mädchen verschwindet. Es ist ein grausames Märchen, das auch an Rotkäppchen und der Wolf erinnert.

Luk Perceval: „Ich habe immer noch die Not, mich selbst herauszufordern“

Ihre Bühnenästhetik hat sich über die Jahre sehr gewandelt. Seit den „Schlachten“ nach Shakespeares Königsdramen, die Sie 1999 einst berühmt gemacht haben, ist sie immer reduzierter und minimalistischer geworden. Was interessiert Sie heute?

Ich habe immer noch die Not, mich selbst herauszufordern, bei Proben Formen zu entwickeln, die auch ich noch nicht auf der Bühne gesehen habe. Ich habe ja nie ein Regiestudium absolviert, sondern bin zufällig an der Schauspielschule eingesprungen, als ein Regisseur ausfiel. Nach 40 Jahren hilft aber die Erfahrung; die Wege zu dem, was man erzählen möchte, werden mit den Jahren kürzer. Heute interessiert mich, wie sehr wir von unserem Denken gelenkt werden. Die Geschichte von Wolfgang Pagel ist eigentlich ein innerer Monolog. Ein Mensch redet mit sich selbst und erinnert sich an alles, was für ihn bestimmend war. Ich möchte das Publikum einladen, sich eine gemeinsame Welt vorzustellen. Ich liebe das deutsche Wort Kopfkino.

„Wolf unter Wölfen“ Premiere 18.1., 19 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de; www.thalia-theater.de/lessingtage