Hamburg. Ein-Mann-Theaterstück oder szenische Lesung? Mit Monolog „Regen“ gastierte Ferdinand von Schirach in der Laeiszhalle. Zugabe folgt.
Das Plakat am Eingang zur Laeiszhalle verheißt Schönes und Gutes: „Hier klingt Verführung“, ein Motto mit Hinweisen auf Kammerkonzerte der Symphoniker Hamburg – im Kleinen Saal am Gorch-Fock-Wall. Im Großen Saal, am Johannes-Brahms-Platz, ist an diesem Abend „Regen“ angesagt.
Wahlweise als szenische Lesung oder als Ein-Mann-Theaterstück, so ist die Veranstaltung unter jenem Titel mit Ferdinand von Schirach angekündigt. In jedem Fall ein Monolog von und mit dem Bestsellerautor, bei dessen Bucherfolgen meist ein oder zwei Substantive als Titel reichen: „Verbrechen“, „Schuld“ oder „Kaffee und Zigaretten“ etwa.
Ferdinand von Schirach in Hamburg: Bestsellerautor inszeniert sich selbst
Nach von Schirachs unterhaltsamem Erzählband „Nachmittage“ (2022) mit 26 unzusammenhängenden Kapiteln ist in diesem August „Regen. Eine Liebeserklärung“ von ihm erschienen. Und damit spielt er – in diesem Winterhalbjahr bundesweit auf Tournee. Oder spielt er auch sich selbst? Wo verläuft die Grenze zwischen Bühnenfigur und Autor?
Ein Tischchen, darauf ein Glas, ein Stuhl mit Lehne und auf dem Boden eine beige-braune Aktentasche bilden die karge Kulisse auf der großen Bühne des nahezu ausverkauften Saals. Beifall bereits, als er im Dunkeln auf die Bühne schreitet und dann bei Licht betrachtet im Smoking, mit Kummerbund, weißem Hemd und Fliege im Zentrum steht. „Mögen Sie Regen?“, fragt er mit Mikroport ins Publikum. Dieser Begriff mitsamt der rhetorischen Frage ist nur ein Einstieg in die Erzählung(en). Und wie so oft in von Schirachs Büchern dreht es sich beim populären Melancholiker auch hier um existenzielle Themen wie Schuld und Vergebung, Liebe und Tod.
Ferdinand von Schirach: ein Schriftsteller, der seit 17 Jahren nicht mehr schreibt
Erst mal aber kommt der Ich-Erzähler in eine Bar, wiewohl er gar nicht durchnässt ist. „Wissen Sie, ob man hier rauchen darf?“ Er zündet sich im Verlauf nicht nur eine Zigarette an, wandelt lässig hin und her, setzt sich wieder. In Berlin dürfe man in Restaurants nach 23 Uhr rauchen, wenn gegessen worden sei, erzählt der Wahlberliner von Schirach respektive die Bühnenfigur.
Schriftsteller sei er, der seit 17 Jahren nicht mehr schreibe, weil er sich für den Tod seiner Frau verantwortlich fühle. „Ich bin eine Enttäuschung, ich weiß“, sinniert er. Und seit sechs Monaten sei er in einem Prozess einer Beziehungstat mit Todesfolge auch noch Schöffe, ein Laienrichter. Mithin eine Berufung, die man nicht so einfach ablehnen kann. Ob befangen oder nicht, die Auseinandersetzung mit diesem Fall setzt in ihm, dem Schriftsteller-Darsteller, Erinnerungen an Kindheit und Jugend frei.
Nach gut einer Stunde verlässt ein Paar aus der Mitte des Parketts den Saal – Einzelfälle
„Wir sind alle befangen, weil wir in uns gefangen sind. Und davon gibt es keine Erlösung, durch nichts und durch niemanden“, sagt er. Mit autobiografischen Schilderungen, die deutlich machen, dass sein Schreiben nicht vornehmlich von seinen Erfahrungen als Strafverteidiger bestimmt ist, gelangt er zu ureigenen Lebensthemen wie Enttäuschung, Verlorenheit und Reue.
Geschickt räumt von Schirach in seiner Rolle auf der Bühne mit Klischees auf. „Ich bin jetzt 59 Jahre alt“, sagt er. Wie im wahren Leben also. Von Schirach zeigt einen Mann, der sich beinah nichts mehr erhofft. Er ist gefangen in Trauer und Depression. Nach gut einer Stunde verlässt ein Paar aus der Mitte des Parketts den Saal – Einzelfälle trotz des Autors ausgeprägter Sinnkrise inklusive Lamento über das moderne Leben und den stillosen Durchschnittsmenschen.
Ferdinand von Schirach kann auch austeilen über Schriftstellercharaktere im Film
Hatte er vor gut einem Jahr bei seiner „Nachmittage“-Lesung in der Elbphilharmonie noch eine Harfenistin als musikalische Begleiterin dabei, wünschte man sich hier mal ein aufrüttelndes Zwischenspiel. Von Schirach, dessen viel gespielte Theaterstücke „Terror“ (am Deutschen Schauspielhaus) und „Gott“ (im Altonaer Theater) auch in Hamburg erfolgreich liefen, ist eben kein ausgebildeter Schauspieler, der seinen Monolog dramatisch variieren kann. Er ist von Haus aus studierter Jurist, sein erfolgreicher Sprachstil bewusst lakonisch-unterkühlt.
Immerhin liefert er speziell im letzten Drittel seiner Veranstaltung einige ironische Spitzen, die den Abend etwas versöhnlicher gestalten. Er kann auch austeilen, sanft. Etwa mit seiner Abhandlung von Schriftsteller-Charakteren im Film: Entweder dieser sitzt vor der Schreibmaschine, er raucht, es raucht in seinem Kopf, doch es fällt ihm nichts ein. Oder er sitzt davor, raucht und schreibt die ganze Nacht hindurch einen Roman. Und zum Schluss steht dann dort das Wort „ENDE“ geschrieben – wie im Film.
Von Schirach in Hamburg: Publikum applaudiert im Stehen, bei Preisen zwischen 50 und 90 Euro
Und er macht sich über den modernen Menschen lustig, schwitzende Sportler in der S-Bahn und insbesondere die Rucksackträger in Großstädten ganz ohne Berge. Liegt zwar dicht an Allgemeinplätzen, doch Sätze wie „Das Praktische und das Funktionelle und das Natürliche führen direkt in die Hölle.“, bleiben haften. Von Schirach bleibt in seiner Figur Misanthrop, auch mal Zyniker. Von Hemingway, den er verehrt, geht es zur Geburt der Aphrodite, zum Hormonhaushalt der Präriemaus bis zum Urlaub am Strand, den er hasst. „Diese Fische tun alles im Meer. Wo denn sonst? Es sind Fische! Sie gehen im Meer aufs Klo.“
Am Ende weiß man nicht mehr so ganz genau, worum es eigentlich ging. Gewiss die „Ambivalenz“, die sich widersprechenden Gedanken und Gefühle mitsamt der inneren Konflikte und Spannungen, sie kommen auch beim neuen Schriftsteller-Darsteller im feinen Outfit zum Vorschein. Oder trägt er sie sogar zur Schau?
Das Publikum applaudiert schließlich begeistert im Stehen, von Schirach verbeugt sich in seinem Smoking wie ein Maestro. „Kommen Sie gut nach Hause“, sagt von Schirach am Ende kaum hörbar hinein in den nicht verklingen wollenden lauten Applaus. Es ist das einzige Mal an diesem Abend, dass der Bestsellerautor aus der Rolle fällt. Angeregt, wenn nicht sogar beglückt, geht das Publikum aus drei Generationen und mehr Männern als bei manch anderen Autoren nach rund eineinhalb Stunden Richtung Ausgang der Laeiszhalle. Zwischen 50 und 90 Euro hat eine Eintrittskarte gekostet.
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Im Foyer hat sich eine Schlange gebildet. Am Tisch einer bekannten Buchhauskette liegt der „Regen“ kauf- und griffbereit, wahlweise noch versiegelt oder mit Signatur. Die signierten Exemplare sind schnell vergriffen. Ferdinand von Schirach habe sie bereits im Vorfeld mit seinem Namenszug versehen, erklärt eine Mitarbeiterin. Das mache er auf allen Stationen seiner Tournee so. Der Schriftsteller lässt sich nicht blicken, er bleibt lieber im Verborgenen, kommt aber im November wieder. Draußen, vor der Laeiszhalle, hat Regen eingesetzt. Sprühregen.
F. v. Schirach: „Regen“ wieder Mo 20.11., 20 Uhr, Laeiszhalle, ausverkauft, ggf. Restkarten an der Abendkasse.