Weltweit wird der deutsche Autor Hans Fallada wiederentdeckt - nun fand ein Hamburger Lektor vergessene Originale aus den 20er-Jahren.

Hamburg. Ein Mann sitzt im Wartesaal des Hauptbahnhofs und schreibt eine Postkarte, aber er ist kein Tourist, und er wartet auch nicht auf einen Zug. Die Karte, an einen Freund adressiert, ist ein Verzweiflungsschrei: Er überlege, "mit diesem elenden Leben, das doch nur Qual ist, Schluss zu machen und in die Elbe zu springen".

Hans Fallada ist ein Sohn aus gutem Hause. Doch er gerät auf die schiefe Bahn, wird abhängig von Alkohol und Rauschgift, braucht Geld, wird kriminell und landet wegen Unterschlagung im Gefängnis. Als er am 10. Mai 1928 entlassen wird, ist Fallada 34 Jahre alt. Er will ein neues Leben beginnen, aber in Neumünster, wo "mich jeder Dritte aus meiner unglücklichsten Zeit kennt und sich beeilt, es den ersten beiden mitzuteilen", ist das unmöglich. Er zieht nach Hamburg, in die Großstadt, wo ihn keiner kennt.

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Er wohnt zunächst in einem Wohnheim für Haftentlassene in Barmbek, danach nimmt er sich ein möbliertes Zimmer in Eilbek, an der Hasselbrookstraße 54, wo er Untermieter bei der Witwe Wilhelmine Fehrmann wird. Er muss sparen, denn eine feste Stelle findet er nicht: Sein Lebenslauf taugt nicht gerade als Empfehlung für potenzielle Arbeitgeber. So kauft er von seinem letzten Geld eine Schreibmaschine und versucht sein Glück bei Exportfirmen, die für ihre Werbebriefe Adressenschreiber benötigen. "Für 1000 Adressen bekam ich im besten Falle vier Mark, und wenn es spanische waren, fünf Mark. Es schrieb sich lange an 1000 Adressen", erinnerte er sich später an die Hamburger Zeit.

Doch selbst diese Aufträge kommen immer seltener. So streift ein Arbeitsloser mehr durch die Straßen, in der Hoffnung, ein paar Mark zu ergattern. Er beobachtet Menschen, denkt sich Geschichten aus, schickt sie an Zeitungsredaktionen. In seiner Not wendet er sich an seinen früheren Verleger. "Ich bin so ziemlich am Ende und weiß nicht mehr aus noch ein", schreibt er Ernst Rowohlt, "seit 4 Monaten bin ich aus der Haft entlassen. Ich habe in dieser Zeit auf jede erdenkliche Weise versucht, mir Arbeit zu verschaffen: so gut wie erfolglos. Zur Tagesschriftstellerei tauge ich nichts, meine Manuskripte kommen mit einer ermüdenden Regelmäßigkeit an mich zurück ..." Doch Fallada ist nicht gänzlich erfolglos: Ein paar kleine Skizzen kann er in den Hamburger Blättern unterbringen.

Bisher hat sich niemand die Mühe gemacht, sie zu suchen. Sie sind nie wieder gedruckt worden, wurden in keinen Sammelband aufgenommen oder in einer Biografie erwähnt.

"Rache einer Hamburgerin" heißt zum Beispiel eine kleine Geschichte, die im "Hamburger 8-Uhr-Abendblatt" vom 16. September 1928 zu finden ist, "Eine vom Mädchenklub" wird wenig später im gleichen Blatt gedruckt.

Sind das noch Anekdoten, so verlegt sich Fallada bald auf Alltagsbeobachtungen und die Schilderung von "Großstadttypen", wie seine Feuilleton-Beiträge im "Hamburger Echo" überschrieben sind. Den "Großstadttyp", den Fallada besonders einfühlsam schildert, musste er sich doch nur selbst beobachten, ist "der Strafentlassene". Er ist fest entschlossen, "keine Dummheiten" mehr zu machen. Um nicht wieder rückfällig zu werden, tritt Fallada dem Guttempler-Orden bei. Mittags einen halben Liter Milch und zwei Bücklinge, abends nicht in die Wirtschaft, sondern in die Guttempler-Loge an der Güntherstraße. Als das Geld immer knapper wird, sucht er sich eine billigere Unterkunft und fand sie bei dem Logenbruder Hans Issel: Eiffestraße 259, 4. Stock.

Auch der Held in der Zeitungsgeschichte schlägt sich mit einfachen Schreibarbeiten mühsam durch, doch dann bekommt er keine Aufträge mehr. Nun geht es schnell bergab. Die guten Vorsätze schwinden, Hoffnungslosigkeit macht sich breit. "Wozu sich noch mühen, er hat eben kein Glück." Die Verlockung ist groß, und die Gefahr, wieder im Gefängnis zu landen, schreckt ihn nicht. Im Gegenteil: Das Leben in der Zelle erscheint erstrebenswerter als die Existenz als Strafentlassener. "Hat er je geglaubt, das Leben war dort schlimm? Leicht war es, er hatte zu essen, keine Geldsorgen, niemand verachtete ihn. Er war unter seinesgleichen." In den Zeitungen liest man in jenen Tagen: Razzia der Kriminalpolizei in Altona in den frühen Morgenstunden; überholt wurden Gasthöfe, Logierhäuser "und eine Anzahl verdächtiger Quartiere". Messerstecherei in der Hamburger Straße: Das Opfer war ein Tischler, der Täter ein Maschinenschlosser. Auf der Trabrennbahn in Bahrenfeld gibt es "einen Tag der fetten Quoten" (805,649 auf Sieg, 320 auf Platz). Ein Auktionator kündigt an: "Unter den zur Versteigerung kommenden Gegenständen befindet sich ein kompletter, sehr eleganter und hochmoderner Hausstand, der aus bestimmten Gründen nicht in der Privatwohnung meines Auftraggebers versteigert werden kann." Im Schauspielhaus gastiert Elisabeth Bergner, im Konservatorium gibt Wladimir Horowitz vor seiner Amerikatournee einen Klavierabend. Im Ballhaus Trichter sieht man "ein Heer schöner Frauen" in der Revue "Ohne Moral, aber nett", im Alkazar tritt der "Eiserne Gustav" auf.

Als "Der Strafentlassene" im "Hamburger Echo" am 17. Dezember 1928 erscheint, lebt Fallada wieder in Neumünster. "Von Hamburg bin ich hierher verzogen", schreibt er Ernst Rowohlt, "weil ich die dortigen Preise jetzt nach Eintritt der Kälte wirklich nicht mehr erschwingen konnte - die Heizungskosten warfen meinen Etat völlig um."

Doch er ist häufig in Hamburg zu Besuch, und dafür gibt es einen Grund: Als er sein Zimmer bei den Issels an der Eiffestraße räumt, zieht dort wieder die Tochter seiner Wirtsleute ein. Anna Issel, genannt Suse, wird seine Frau und eine Stütze in seinem unruhigen Leben.

Zum Jahreswechsel 1929/1930 klappt es endlich: Rowohlt stellt Fallada in seinem Verlag an. Er glaubt an den Schriftsteller und sorgt dafür, dass er nachmittags freihat: zum Schreiben. Der Bestseller "Kleiner Mann - was nun?" saniert Autor und Verlag. Doch seine Vergangenheit vergisst Fallada nicht: Die kleine Skizze "Der Strafentlassene", die er einst für die Zeitung schrieb, wird zur Keimzelle für einen großen Roman, in dem er seine Hamburger Erlebnisse verarbeitet: "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst".