Hamburg. ...und werden wir demnächst von Himbeeren regiert? Fragt sich Philippe Quesne – die Antwort auf Kampnagel könnte spektakulär werden.

Seit 20 Jahren sorgt der französische Theatermacher Philippe Quesne mit eigenwilligen Bühnenperformances für Furore. Internationale Aufmerksamkeit erlangte er erstmals mit der Produktion „La mélancholie des dragons“ (2008), in der er vier langhaarige Rocker einen Vergnügungspark in einer Schneelandschaft errichten ließ. Sie beeindruckte damals auch auf Kampnagel, ebenso wie später die Folgeproduktionen „Big Bang“ (2010) und „Swamp Club“ (2013).

Eigentlich ist der 1970 geborene Quesne von Haus aus Bildender Künstler und gestaltete Räume für Theater- und Opernaufführungen. Seit 20 Jahren aber fasziniert die Kunst seiner Kompanie „Vivarium Studio“ nun schon als Theaterlabor, in dem er mit sparsamen Mitteln, Gesten, Worten Rituale der Gegenwart in kleine Zeremonien verwandelt. Durchzogen von einer sanften Melancholie, aber auch von Verspieltheit und Witz.

Kampnagel: Der „Garten der Lüste“ wird in der großen Halle errichtet

Quesne ist in der Begegnung ein sanfter, zugewandter Künstler, der sich Zeit nimmt, um Gedanken genau zu formulieren. In dem kleinen südfranzösischen Dorf Boulbon anlässlich der Premiere seiner aktuellen, in Frankreich gefeierten Produktion „Der Garten der Lüste (Le Jardin des délices)“ beim Festival d’Avignon 2023 war Zeit für ein Gespräch zum Jubiläum. Vom 25. bis 27. Januar wird der „Garten der Lüste“ in der großen Kampnagel-Halle errichtet.

Wer war zuerst da, die Performance oder das Ei? Philippe Quesnes „Garten der Lüste“ gastiert Ende Januar auf Kampnagel.
Wer war zuerst da, die Performance oder das Ei? Philippe Quesnes „Garten der Lüste“ gastiert Ende Januar auf Kampnagel. © Martin Argyroglo Callias Bey | Martin Argyroglo Callias Bey

Ihre Uraufführung hat in einem gigantischen Steinbruch bei Avignon stattgefunden. Daraus ergab sich die Bühne fast von allein. Wie werden Sie die Produktion in die Kampnagel-Halle transportieren?

Philippe Quesne: Der Steinbruch erinnert natürlich an ein antikes Theater. Ich werde aber auch auf der Bühne eine Wüste errichten, auf der sich die Dinge dann ereignen.

Welche Rolle spielt das gleichnamige Gemälde „Der Garten der Lüste“ des niederländischen Malers Hieronymus Bosch in Ihrer Theaterperformance?

Viele meiner Stücke sind in Referenz zu großen Werken entstanden. In ihnen spiegelt sich die Gegenwart. Ich habe Bezüge verwendet zu Caspar David Friedrich oder, etwa in „La mélancholie des dragons“, Referenzen zu Albrecht Dürer. Mich interessiert diese Verbindung von Renaissance und Mittelalter, der Moment, an dem sich das Wissen aufschwingt hin zu einer besseren Welt.

Kampnagel-Künstler: Wird die Gesellschaft bald von einer Himbeeren-Art regiert?

Was fasziniert an dem 500 Jahre alten Triptychon „Der Garten der Lüste“ mit seinen fantastischen Darstellungen von Paradies und Hölle für ein Theater der Gegenwart?

Die Welt, die Bosch zeigt, ist eine grausame. Das fasziniert mich. Er malt gleichsam einen Comic und nutzt eine Leiter, um eine andere Welt zu zeigen. Es ging ihm auch um eine Versöhnung der Arten. Er hat skurrile Wesen kreiert mit Schnabelköpfen. Für mich ist das sehr inspirierend. Übernimmt vielleicht der große Vogel die Macht über die Menschheit? Oder wird die Gesellschaft bald von einer Himbeeren-Art regiert? Es ist eine Hommage an die Menschen, die vorangegangen sind. Ich glaube aber nicht an einen Fortschritt in der Kunst.

Philippe Quesne hat in Avignon bereits den „Garten der Lüste“ gezeigt. Jetzt kommt Kampnagel dran.
Philippe Quesne hat in Avignon bereits den „Garten der Lüste“ gezeigt. Jetzt kommt Kampnagel dran. © Annette Stiekele | Annette Stiekele

In welcher Situation befinden sich die Figuren zu Beginn des „Gartens der Lüste“?

Häufig beginnen meine Stücke mit einem Autounfall oder einem Meteoriten, der eingeschlagen hat. Hier haben wir eine sehr diverse Gesellschaft vor uns. Es könnte eine therapeutische Sitzung in der Wüste sein. Es geht um Widerstand und verschwundene Menschlichkeit. Gleichzeitig haben sie eine Mission und tragen Koffer. Das Spiel ist ästhetisch Ende der 1968er-Jahre angesiedelt. Man fährt Bus. Es herrscht ein wenig Woodstock-Atmosphäre. Und dann tauchen Fragmente von Bosch auf, modellierte Gesten, die aber nichts mit dem Begehren auf dem Gemälde zu tun haben.

Es wird diskutiert, gemeinsam gelesen und Theater gespielt, aber es gibt auch Konflikte in der Gemeinschaft...

Sie erinnert mich an die Zeit der Utopien, als man dachte, man erfindet eine neue Welt. Jetzt ist sie ernst geworden. Wir fragen danach, wie haben sich die Ansprüche entwickelt, in Bezug auf Frauen, Sexualität, Natur? Der Abend ist eine Groteske. Es gibt viel Text und sehr konkrete Szenen bezogen auf die Situation des Planeten. Man bereitet sich auf die Katastrophe vor.

Mehr zum Thema

Warum ähnelt das Mittelalter in Ihren Augen unserer heutigen konfliktgeladenen Zeit?

Liegt die Zukunft nicht häufig in unvollendeten Ereignissen der Vergangenheit? Hieronymus Bosch hat zu seiner Zeit viele Warnungen ausgestoßen. Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis. Vielleicht wird sich die Menschheit auf einem anderen Planeten entwickeln? Vielleicht wird uns ein Insekt unterwerfen. Wir wissen es nicht.

Was interessiert Sie am Genre des Westerns?

Mich fasziniert diese Ironie des Kampfmoments, das Kino, das Bild des einsamen Cowboys, der einen Platz in der Welt sucht. Für mich ist es die Frage, wie jemand einen Raum erobern will. Das hat mich schon als Kind sehr beschäftigt. Genauso wie das Kino von Fellini und der Italo-Western. Ich mag die Melancholie, das Zirkushafte und wollte es hier zusammenbringen.

Ist es auch eine Art Retrospektive?

Ich greife gerne Motive aus früheren Arbeiten wieder auf. Ich arbeite ja mit vielen Spielern meines Ensembles „Vivarium Studio“ schon seit 20 Jahren zusammen. Wir haben eine eigene, stark an Poesie angelehnte Spielweise entwickelt.

„Der Garten der Lüste“25. bis 27.1., jew. 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Karten unter T. 27 09 39 39;www.kampnagel.de