Hamburg. Der japanische Bestsellerautor beschenkt an seinem 75. Geburtstag die Welt mit einem neuen Buch. Ein Brocken, mal wieder, und ein Hit.

Den Ort, an dem es keine Konflikte und keine Sorgen gibt, die ummauerte Parallelwelt, an deren Tor man seinen Schatten abgeben muss, um in sie zu gelangen, gibt es im Werk dieses großen Autors bereits. In „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“, erschienen 1985, gerät ein namenloser Erzähler in diese Sphäre der immerwährenden Harmonie. Haruki Murakami, der am 12. Januar 75 Jahre alt wird, erweckt diese Welt in seinem neuen, am Geburtstag auf Deutsch erscheinenden Roman zu neuem Leben: Mensch, diese Schatten. Man kann sie immer noch einfach ablegen. Geil geheimnisvoll.

„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ heißt das neue, knapp 640 Seiten dicke Werk des japanischen Großmeisters des Surrealen; im Original erschien es bereits im April 2023. Es ist eine fantastische Fabel über die Macht der Imagination, die erste Liebe und Einsamkeit als Lebenskonzept. Ein murakamischer Stoff, der Hall- und Spiegelräume öffnet – und ein Konzentrat seines bisherigen Schaffens, das die Lust des Autors am literarischen Rätsel gleichzeitig auf die Spitze treibt. Ein würdiger Nachfolger von Murakamis bislang letztem Roman, dem vor sechs Jahren erschienenen „Die Ermordung des Commendatore“, ist „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ in jedem Fall.

Haruki Murakami legt einen neuen Roman vor: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“

Seine Entstehungsgeschichte ist interessant: Die Story ist nämlich ganz alt, 1980 erschien eine Kurzgeschichte mit demselben Titel in einer Literaturzeitschrift. Murakami beschäftigte sie ein Arbeitsleben lang, wie er im Nachwort verrät. In „Hardboiled“ griff er diese frühen Ideen bereits auf. Und nun, so soll es nach seinem Willen sein, führt er sie also zu voller Blüte.

Der Erzähler des neuen Romans – sein Name wird nicht genannt, eh klar – lebt in zwei Welten. Die erste, vermeintlich eigentliche ist zu Beginn des Romans die Welt eines 17-jährigen Schülers, der sich in ein 16-jähriges Mädchen verliebt. Es ist eine schüchterne Teenie-Romanze, die abrupt endet, als das Mädchen dem Erzähler zwar seine Gefühle gesteht, aber dennoch unter mysteriösen Umständen den Kontakt abbricht.

Murakami-Roman: Ein obskurer Hamburger Schriftsteller wird zitiert

Wobei in Bezug auf die Vokabel „mysteriös“ ein inflationärer Gebrauch zu befürchten ist, wenn man sich mit Murakamis Erzählwerken beschäftigt. Der Japaner ist ein gelehriger Schüler des magischen Realismus, Gabriel García Márquez‘ „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ wird in seinem neuen Roman erwähnt und zitiert. Außerdem ein zu Recht längst vergessener Hamburger Schriftsteller namens Erich Scheurmann („Der Papalagi“), der, bevor er Nazi wurde, in den 1920er-Jahren ein obskures, aber viel gelesenes und zivilisationskritisches Buch über einen fiktiven Südseehäuptling verfasste.

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Zurück zu Murakami und seinem verliebten Helden: Er sucht und findet die junge Frau, die zur Liebe seines Lebens werden wird, in einer ummauerten Stadt wieder, in der es keine Uhren gibt und auch sonst nicht den Stress des modernen Lebens. Die Stadt ist ihre gemeinsame Erfindung, die des Mädchens und des Jungen, der dieses liebt. Sie ist ein Reich der Vorstellung, die im Roman Wirklichkeit wird. Sie ist wie ein Roman, und romanhaft ist auch das Geschehen, wenn man so will. Nun, es ist halt kein Liebesroman mit Happy End. Das Mädchen erkennt den Erzähler in dieser Parallelwelt nicht mehr, genau wie sie es ihm in der realen vorhergesagt hatte. Sie arbeiten in der ummauerten Stadt gemeinsam in einer Bibliothek.

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Es ist eine besondere, wie kann es anders sein. Der Erzähler liest nicht Bücher, er liest die in der Bibliothek gesammelten Träume der Bewohner der Stadt. Die Architektur des Romans baut auf die großzügig platzierten Motive, von denen eines der Traum ist. Seinen Freud hat Murakami gelesen, dieser Roman, den man mit einigem Recht ein Alterswerk (er habe eine „gewisse Lehrzeit“ hinter sich, schreibt Murakami kokett im Nachwort) nennen kann, folgt einer Traumlogik, wie überhaupt auf Literatur die Gesetze der Traumdeutung und des Unbewussten angewandt werden können, Dekonstruktivisten wissen das.

Neuer Roman „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“: Das kann man philosophisch nennen

Als schattenloses Wesen hält es der Erzähler nicht lange in der Stadt ohne Dynamik aus. Im echten Leben hängt er anschließend der alten Liebe nach, heiratet nie und arbeitet in einem Verlag in Tokio. Dort kündigt er eines Tages und siedelt mit Mitte 40 in die Provinz über, um in einer Kleinstadt in einer Bibliothek zu arbeiten. Murakami zieht nun in diesem zweiten Teil nicht unbedingt das Erzähltempo an; er steigert aber das übernatürliche Geschehen. Herr Koyasu, der Gründer, Sponsor und Chef der Bücherei, stellt sich als Wiedergänger seiner realen Person heraus. Er outet sich dem Erzähler gegenüber erst spät als Geist und verwickelt ihn, der danach dürstet, in tiefsinnige Gespräche über die menschliche Existenz.

Murakamis Erzählungen ist oft eine philosophische Ebene attestiert worden. Sie findet sich in „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ unbedingt. „Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich verliere mich aus den Augen. Ich habe nicht das Gefühl, mein Leben als ich selbst zu leben, als mein wahres Wesen. Manchmal scheine ich nur ein Schatten meiner selbst zu sein. In solchen Momenten werde ich so unsicher, als wäre ich nur ein Umriss, der mich imitiert und vorgibt, ich zu sein“, sagt der Erzähler an einer Stelle. Für Hirnzermarterter, Sinnsucher und Identitätsspieler ist der Roman also ein guter Tipp.

Haruki Murakami: Die Frauenfiguren bleiben leer

Es geht um die Ahnung, dass man ein ganz anderes Leben leben könnte; dass das eigentliche Leben ein anderes wäre. Diese ungelebte Existenz ist notgedrungen ein Produkt der Imagination. Man muss sich ihr mit einer gewissen Absolutheit hingeben. Indem man zum Beispiel seinen Schatten abgibt. Ist dies nicht eine köstliche Metapher für das Verfassen eines Romans, der ein Werk der Fantasie ist, eine vollendete Fiktion?

Das Cover von Haruki Murakamis „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“. Übers. v. Ursula Gräfe. Dumont-Verlag. 640 S., 34 Euro
Das Cover von Haruki Murakamis „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“. Übers. v. Ursula Gräfe. Dumont-Verlag. 640 S., 34 Euro © Dumont Buchverlag | DuMont Buchverlag

Man kann an „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ monieren, dass die Frauenfiguren insgesamt leer bleiben. Was die Unmöglichkeit von Liebe und Vereinigung mit einem anderen anbelangt, muss diese Entscheidung Murakamis nicht ganz falsch sein. Ein Erzählstrang, der das Leben der Angebeteten behandelt, hätte dem Roman allerdings nicht unbedingt seiner Statik beraubt.

Murakamis neuer Roman: Ein Pageturner mit einfachen Sätzen

Der reduzierte Schreibstil, der Murakami-Flow mit den gleichzeitig ausbuchstabierten und die eigentliche Aussage verdeckenden Szenen machen auch diesen Roman zum Pageturner. Die einfachen Sätze sind eine Voraussetzung des Welterfolgs. Murakamis Werk wird in 50 Sprachen übersetzt. Ist das ein Grund dafür, dass er zwar seit Jahren für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, dabei aber bislang immer leer ausging? Ein Bestsellerautor als Nobelpreisträger, das würde zur Stockholmer Jury tatsächlich nicht passen. Das gilt wohl auch für den Fall durchschlagenden Kritikerlobs; zumindest wenn dieses zu gefällige Autorinnen und Autoren betrifft, die der Allgemeinheit der Lesenden tatsächlich bekannt sind.

Der Nobelpreis geht, so hat man den Eindruck, eher an Autorinnen und Autoren, mit denen die Nobelpreis-Jury die Öffentlichkeit überrascht und die bei den Wettanbietern nicht weit oben notiert sind. Wobei es ja mittlerweile längst eher eine Überraschung wäre, würde die höchste Literaturauszeichnung an einen viel gelesenen Autor oder Autorin gehen. Wenn man behauptet, dass Haruki Murakami den Nobelpreis wohl nie bekommen wird, spricht man damit keine ganz unwahrscheinliche Vorhersage aus.

Haruki Murakami: Den Nobelpreis wird er vermutlich nie bekommen

Wäre das Über-Murakami-Hinweggehen schlimm? Mitnichten. Er braucht den Preis (auch fürs Ego hoffentlich) nicht. Wenn Murakami ihn für eine Sache aber verdient hätte, dann für die konsequente Absage an die Eindeutigkeit. Der neue Roman steht musterbeispielhaft für das literarische Bemühen, eine Geschichte nicht als geschlossenen Kreis zu betrachten. Für seine Fans macht das denn Reiz seiner Stoffe aus. Ganz „verstehen“ kann man Romane wie „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ nicht. Das gilt ja auch für Träume.

Der Erzähler lernt in seiner Bibliothek einen namenlosen Jungen kennen. Womit auch das Doppelgänger-Motiv bedient wäre: Der Junge hat Kenntnis von der Stadt mit der Mauer, er will dort unbedingt hin. Später ist auch der Erzähler selbst wieder an diesem Ort, von dem man nicht weiß, was an ihm paradiesisch sein könnte und was ein Albtraum.