Hamburg. Der Roman des Starautors erscheint doppelbändig. „Die Ermordung des Commendatore“ macht auch in der zweiten Hälfte Spaß.

Ein einsamer Mann in einem Haus am Berg, der Porträts malt. Nachbarn, die genauso einsam sind. Und dann: Seltsame Erscheinungen wie in einem düsteren Märchen, die den Erzähler heimsuchen. Eine etwa 60 Zentimeter große Figur taucht immer wieder auf, hinabgestiegen aus einem Gemälde. Nur der Erzähler kann den Winzling sehen. Für Menshiki, den Nachbarn des Erzählers, ist er unsichtbar. Menshiki ist aber wahrscheinlich ohnehin die gruseligere Gestalt: Über ihn, den reichen Ex-Unternehmer, der nicht mehr wirklich zu arbeiten braucht, spekulierte man am Ende von Band eins und über den Grad der Durchtriebenheit, mit der man es hier zu tun hat. Will Menshiki etwas Böses, und wenn ja, wem – dem Erzähler? Oder seiner, Menshikis, angeblicher Tochter? Und hört die – angesichts der verstörenden Vorgänge – insgesamt bemerkenswert coole Hauptfigur eigentlich immer noch so viel klassische Musik? Hier beantworten wir die wichtigsten Fragen zum zweiten Teil von Haruki Murakamis Bestseller-Roman „Die Ermordung des Commendatore“, der jetzt erscheint. Achtung, Spoilerwarnung!

Muss man den ersten Band eigentlich gelesen haben?

Aber sicher. Oder haben Sie „Game of Thrones“ auch erst bei Staffel vier angefangen? „Die Ermordung des Commendatore“ ist sowieso ein Roman, die deutsche Übersetzung erscheint allerdings in zwei Lieferungen. Murakami-Fans („Harukists“) durften sich also gleich zweimal freuen.

Und wen treffen wir in diesem zweiten Teil?
Auch wieder den Opernzwerg aus dem Gemälde, natürlich: den Commendatore aus „Don Giovanni“, mit dem es bei Mozart gleich zu Anfang ein böses Ende nimmt und der auch bei Murakami bluten muss. Warum genau? Vielleicht nur, um den Reigen der irritierenden Ereignisse zum Abschluss zu bringen, denen sich der namenlose Erzähler des Romans ausgesetzt sieht. Fantastischer Surrealismus und die Schaffung einer Parallelwelt: Haruki Murakami gibt seiner treuen, seiner großen internationalen Leserschaft das, wonach es ihr gelüstet. Der Erzähler kehrt am Ende, wenn man so will und wie schon auf den ersten Seiten des ersten Bandes verraten wird, ins bürgerliche Leben zurück, als er wieder mit seiner Frau zusammenkommt. Die hatte ihn zunächst für einen anderen verlassen.

Dieser sinistre Nachbar des namen­losen Ich-Erzählers – soll das eine Art
japanischer Gatsby sein?

Mit ziemlicher Sicherheit ist Menshiki eine Hommage an die legendär tragische Romanfigur von F. Scott Fitzgerald. Wie Gatsby ist Menshiki ein verkorkster Solitär mit massig Zaster, der bereits auf den ersten Blick ungesund wirkende Leidenschaften pflegt. Sie äußern sich zum Beispiel in der Fernrohr-Spannerei, mit der er seine Nachbarschaft am Berg bedenkt. Dass Menshiki seiner mutmaßlichen Tochter Marie inkognito auf die Pelle rückt, wissen wir aus Band eins. Jetzt wissen wir auch, wie wenig Moral er walten lässt, wenn es um das Erreichen seines Ziels geht. Er bandelt mit der Tante der 13-Jährigen an.

In dem Roman geht es ja viel um Musik . Schlägt sich das Motiv auch in Murakamis Art zu schreiben nieder?

Murakamis Stil wird oft eine gewisse Musikalität attestiert. Spätestens im zweiten Band des Werks fallen einem die szenischen, inhaltlichen und wörtlichen Wiederholungen auf. Das ist keine Schludrigkeit, das ist ein Mittel der Komposition. Der ehemalige Jazzbarbetreiber Murakami schreibt nicht nur wie andere große Autoren auch um die immergleichen Motive herum – das allererste ist bei ihm immer: der isolierte Mensch –, er wiederholt in „Die Ermordung des Commendatore“ Beschreibungen und Charakterisierungen ein ums andere Mal. Etwas überspitzt könnte man sagen: Der Hang zur Wiederholung erinnert an die Pop-Spielart des Krautrock. Murakamis atmosphärisches Schreiben ist auf Fläche angelegt: Sein neuer Roman beschäftigt sich mit Künstlerschaft und deren Bedingungen, vor allem aber auch mit Familienbeziehungen und Verlusterfahrungen. Implizit stellt Murakami die Frage, ob künstlerische Freiheit und Exzellenz nur für den Preis der Einsamkeit zu haben sind. Sein Protagonist ist ein Einzelgänger, das gilt für alle Figuren: Ihr jeweiliges Existenz-Solo schildert der Erzähler in aller Ausführlichkeit. Zu viel vom Immergleichen kann es nicht geben: Das Leben ist eines der härtesten, wenn man in japanischen Gebirgslandschaften lebt. Um zur Musik zurückzukommen, wird in Teil zwei besonders viel „Der Rosenkavalier“ und „The River“ gehört. Strauss und Springsteen, unschlagbar.

Haruki Murakami:
„Die Ermordung
des Commendatore:
Eine Metapher
wandelt sich“,
Übers. v. Ursula
Gräfe, Dumont,
489 S., 26 Euro
Haruki Murakami: „Die Ermordung des Commendatore: Eine Metapher wandelt sich“, Übers. v. Ursula Gräfe, Dumont, 489 S., 26 Euro © Dumont | Dumont

Muss ich das alles bis ins kleinste
Detail verstehen?

Nein. Murakami ist ein Meister der inhaltlichen Mehrdeutigkeit, eine Semantikmaschine, die keineswegs treffsicher in nur eine Richtung feuert. Der Autor hat ein Faible für offene Enden, und erst wenn die Erzählfäden lose hängen, ist das Romankleid für ihn formvollendet – und der Autor erscheint als genialer Schneider, dessen Stoffe dunkel schimmern. Im „Commendatore“ ist das Ende aber noch verhältnismäßig konkret. Auch wenn man sich nicht komplett einen Reim auf das Geschehen machen kann (für was war der Opernzwerg jetzt eigentlich noch mal genau gut?) – das gehört so, wenn die Fantastik übernimmt.

Am Höhepunkt der Handlung entledigt sich der Erzähler des Commendatore. Danach steuert ihn ein Fährmann durch die Unterwelt. Das kennt man aus der antiken Sagenwelt.

Genau. Aber ob literarische Querverweise dem ewigen Anwärter tatsächlich den Nobelpreis einbringen? Auf gewisse Weise ist Haruki Murakami in seinem Ruhm gefangen. Notgedrungen ist er als Bestsellerautor auch im neuen Roman durchaus ein Auftragsschreiber fürs Publikum. Die Stockholmer Jury, der man derzeit selbst eher keine Sympathien entgegenbringt, mag so etwas nicht.