Hamburg. Die Barockgeigerin spielte Bach-Sonaten in einer tänzerischen Choreografie. Ein Gesamtkunstwerk im Kleinen Saal der Elbphilharmonie.

So dunkel ist es im Saal, dass die grüne Notausgangsbeleuchtung regelrecht aufdringlich wirkt. Drei Gestalten betreten fast ungesehen die Bühne, räumen Möbel, wechseln Kleidung, in einer Ecke wird eine Geige gestimmt. Niemand in den vollbesetzten Reihen wagt einen Begrüßungsapplaus, auch nicht, als schließlich ein Scheinwerfer Licht an die Wand wirft und die Figuren sichtbar werden. Das Stück hat längst begonnen.

Elbphilharmonie Hamburg: Wenn Geigerin Midori Seiler Bach spielt, fliegen die Funken

Die Barockgeigerin Midori Seiler läuft – spielt – einen Marathon der besonderen Art: Im Kleinen Saal der Elbphilharmonie führt sie die drei Sonaten für Violine solo von Johann Sebastian Bach auf. Ohne Pause. Jede allein kommt schon einer geigerischen Gipfelbesteigung gleich. Aber gleich drei und dazu auswendig?

Doch dabei bleibt es nicht: Seiler ist Teil einer Choreografie, für die der Tänzer Juan Kruz Díaz de Garaio Esnaola verantwortlich zeichnet. Aber laut Programmheft haben alle drei Mitwirkenden, auch der junge Katalane Martí Corbera als Dritter im Bunde, an der Gestaltung der Performance mitgewirkt.

Midori Seiler in der Elbphilharmonie: Alles fließt, Geschlechterrollen lösen sich auf

Unter der Überschrift „III – Bach getanzt“ entfaltet sich über die Dauer der drei Sonaten hinweg ein Beziehungsreigen von einer Vielfalt und einem Spannungsreichtum, die den Betrachter oder die Betrachterin verblüffen, fesseln, bezaubern (nur offenbar die wenigen nicht, die mittendrin vernehmlich den Saal verlassen).

Alles fließt, die Musik, die Bewegungen der Tänzer und die Anziehung zwischen den Beteiligten, definierte Geschlechterrollen lösen sich auf. Wenn zu Beginn Seiler und Kruz einander in die Augen sehen, fliegen förmlich die Funken. Doch wenig später werden sich Kruz und Corbera ineinander verschlingen. Die Münder bleiben geöffnet, wenn sie sich von ihrem Kuss zurückziehen, es werden stumme Schreie daraus.

Selten war der Begriff Gesamtkunstwerk so angebracht wie an diesem Abend

Zwischen Liebe und Tod bewegt sich dieser Tanz, und Bachs Musik trägt eine gleichsam überkonfessionelle Spiritualität bei. Körper verschmelzen zu Skulpturen und diese zu dramatischen Schattenwürfen dank der zwei Scheinwerfer, die die Tänzer wie im Vorbeigehen in der Position verändern. Jede noch so kleine Bewegung wirkt wie unter einem Vergrößerungsglas, selbst ein Wimpernschlag der Geigerin, wenn sie zwischen zwei Sätzen einem der Tänzer gegenübersteht.

Mehr zum Thema

Seiler braucht eine Weile, bis sie sich freigespielt hat. Die erste der Sonaten, die in g-Moll, klingt noch fest und hakt ein paarmal. Aber trotz Lampenfiebers zeigt sich ihre Meisterschaft in den großen gedanklichen Bögen, in der Mehrstimmigkeit, die sie mit nur vier Fingern auf nur vier Geigensaiten herstellt, in den charakteristischen Stimmungen der zwölf Sonatensätze. Und das alles im Gehen, auf einer Bank stehend oder immer wieder von den Tänzern getragen. Selten war der Begriff Gesamtkunstwerk so angebracht wie an diesem Abend.