Die Barockgeigerin Midori Seiler hat Johann Sebastian Bachs Partiten für Violine solo eingespielt: ein großer Wurf. Eigenwillig und inspiriert.
Johann Sebastian Bach ist in seinem Leben nicht sehr weit herumgekommen. Während sich die Stationen seines Altersgenossen Händel zwischen Rom und London wie die Route eines eifrigen Interrailers lesen, hat Bach es vom heimischen Thüringen aus gerade mal bis Hamburg und Lübeck geschafft. Umso verblüffender, dass sich diese Beschränkung in seiner Musik nicht im geringsten wiederfindet. Im Gegenteil: Bach beherrschte die europäischen Musikstile vollkommen, vom norddeutschen Stylus fantasticus bis zum italienischen Stil: Mal führte er sie geradezu enzyklopädisch vor, mal verschmolz er sie - etwa in seinen sechs Sonaten und Partiten für Violine solo.
Auf drei Sonaten folgt jeweils eine Partita. Jedes Werk - und erst recht der ganze Zyklus - ist Maßstab und Prüfstein für jeden Geiger, der auf sich hält. Warten sie doch nicht nur mit jeder Menge spieltechnischer Gemeinheiten auf, schließlich muss die Geige auch die Bassfunktion übernehmen und gerät schon dadurch in eine einem Melodieinstrument eher unbequeme Mehrstimmigkeit. Vor allem aber stellen sie als Kondensat der Bachschen Tonsprache höchste Anforderungen an Konzentration und Gestaltungskraft.
Jetzt hat die Barockgeigerin Midori Seiler, Konzertmeisterin der Akademie für Alte Musik Berlin und manches mehr, die drei Partiten eingespielt. Natürlich existieren schon gefühlte Hunderte Tonkonserven - aber diese ist keine Athener Eule, im Gegenteil: Genau diese Aufnahme brauchen wir, weniger pathetisch kann man es nicht ausdrücken. Selten hat man die Partiten so souverän, so inspiriert und so ganz und gar eigenwillig gehört. Das einzig Bedauerliche ist, dass Seiler nicht den ganzen Zyklus eingespielt und so die Bezüge zwischen den einzelnen Werken aufgezeigt hat.
Ihre Interpretation finde sie ausschließlich über die Beschäftigung mit dem Notentext, sagt sie im Booklet-Interview. Dass sie zu der Generation von Musikern gehört, die sich noch selbst in die Bibliotheken begeben, um alte Handschriften zu lesen, lässt sie unerwähnt, als verstünde es sich von selbst. Und doch ist gerade das Beglückende an ihrem Spiel, dass es persönlichen Ausdruck verbindet mit hörbar genauer Kenntnis der technischen und stilistischen Besonderheiten der Epoche.
Seiler spielt auf einer Geige von Andrea Guarneri, einem frühen Vertreter der berühmten Cremoneser Geigenbauerdynastie. Nur sehr wenige Instrumente dieser Kragenweite gelangen in die Hände von Barockspezialisten, und schon das ist ein Erlebnis für sich: Seiler kostet das farbliche und dynamische Spektrum der Geige voll aus. Mal haucht sie, mal greift sie energisch zu, sie hat unendlich viele Vibrato-Nuancen und entlockt den blanken Darmsaiten, mit denen man Barockgeigen bespannt und die eine undelikate Behandlung gerne mit Quietschen oder Schweigen quittieren, einen freien, warmen Ton - in aller Mühelosigkeit, wie es scheint, hörte man nicht manchmal als charmantes Nebengeräusch den kleinen Widerstand, den die dicken Saiten einem Finger beim Lagenwechsel entgegensetzen.
Gleich in den ersten Takten in der Allemanda, dem Eingangssatz der h-Moll-Partita und der ganzen Platte, überreicht sie ihre klingende Visitenkarte: In einer großen Linie setzt sie die stolzen Akkorde. Von Akkordbrechung keine Spur; ihrem Gestus fehlt alles Brachiale. Sie nimmt sich die Freiheit, Töne über das Zeitmaß hinaus zu dehnen, sodass sie fast zur Fermate wird - um dann die kleinen Werte diskret zu raffen und so den schwingenden Grundduktus zu wahren. Schließlich sind Partiten in ihrer Grundstruktur Abfolgen von Tanzsätzen.
In der h-Moll-Partita fügt Bach jedem mehrstimmig gespielten Tanz - ob Corrente, Sarabande oder Borea - ein "Double" an. Ein Double klingt wie ein verträumter Abgesang, ein anderes wie ein zorniges Nachsetzen. Diese Paraphrasen sind nur auf den ersten Blick einstimmig: Lebendig werden sie erst, wenn der Spieler aus ihnen ein Frage-Antwort-Spiel macht wie Seiler im Double zur Corrente mit seinen sausenden Sechzehnteln. Der Dreierrhythmus des Originals schimmert durch; hier staut Seiler diskret, dort variiert sie die Strichart; jede Wendung hat ihren Sinn.
Die berühmte Ciaccona, Schlusssatz der d-Moll-Partita, hat bei ihr nichts Auftrumpfendes. Bei aller Pracht legt Seiler das Werk mit größter Gelassenheit an, als wollte sie den Hörer an die Hand nehmen und ihm die Kathedralenarchitektur persönlich zeigen. Und am Ende des Preludio zur E-Dur-Partita, einer hochvirtuosen Trance in glitzernden Tongirlanden, verschwindet sie ganz beiläufig im Pianissimo. Als wär's ein Traum gewesen.
Midori Seiler: Bach, Partiten für Violine solo (Berlin Classics); www.midoriseiler.com