Hamburg. In seinem neuen Erzählungsband scheitert der Bestsellerautor am Anspruch, zugleich minimalistisch und tragisch zu erzählen.

Da ist er, der Mann, der sie einst verließ. Gezeichnet vom Krebs. Er ging, weil er sich in das Au-pair verliebt hatte. Nun, Jahrzehnte später, klopft der Tod an seine Tür. Sie aber wird weiterleben. Sie findet, dass die Krankheit ihn zu Recht getroffen hat. Oder, wie Bernhard Schlink schreibt, sie „gönnt“ sie ihm. Weil: „Er hatte sich eine Jugend erschlichen, für die er zu alt war, und jetzt ein Alter gekriegt, für das er zu jung war.“

Das ist die Härte des Alters. Man ist gnadenlos oder jedenfalls beinahe. Man hat Rechnungen zu begleichen. Oder, auf der anderen Seite, alte Sünden holen einen ein. Schlink, der Autor des Welterfolgs „Der Vorleser“, hat mit den meisten seiner Figuren allerdings Erbarmen und versöhnt sie miteinander oder mit dem Schicksal.

Rollenprosa des selbstgerechten Profiteurs gelingt Schlink prächtig

Aber eben nicht mit allen. Da ist zum Beispiel der Mathematiker und ehemalige Leiter des Instituts für Kybernetik in der DDR, der nach der politischen Wende die persönliche schaffte und ordentlich Geld verdiente. Aber darum geht es in der Erzählung „Künstliche Intelligenz“ gar nicht. Es geht vielmehr um den Stasi-Verrat, den er einst noch zuzeiten des Unrechtsregimes beging, als er die Fluchtpläne seines Freundes und Kollegen auffliegen ließ.

Schlink berichtet allein aus der Perspektive des Mathematikers, dem die Tochter des mittlerweile verstorbenen Opfers auf die Schliche kommt, und die Rollenprosa des selbstgerechten Profiteurs, der im tiefen Innern immer um seine Schuld wusste, gelingt Schlink ganz prächtig.

Schlink versucht sich an Homo-Faber-Pastiche und scheitert kläglich.

Das gilt leider und sicher nicht in Gänze für seinen neuen Erzählungsband „Abschiedsfarben“, in dem Schlink in seinem insgesamt oft zu Unrecht gepriesenen Stil des Schnörkellosen über die letzten Dinge schreibt. Es geht nicht ums Älterwerden, sondern ums Altsein, um Schuld, Vergebung, um Krankheit, Tod, Verlust, um Lebenslügen und späte und überraschende Volten. Was Letzteres angeht, versucht sich Schlink in einer seiner neuen Erzählungen („Geliebte Tochter“) ziemlich matt an einem Homo-Faber-Pastiche – und scheitert dabei kläglich.

Der Ziehvater, der halb bewusstlos, also besoffen, und unbewusst (!) mit seiner bislang unglücklich unbefruchteten Tochter bei einem Ski-Trip schläft und ihr dabei das sehnlich erwartete Kind schenkt: Das ist ganz herrlich, vor allem aber unfreiwillig komisch. Vielleicht erlaubt sich Schlink, der im ersten Leben Jura-Professor war, hier aber auch einfach eine literarische Selbstverortung. Max Frisch muss es dann schon sein. Immerhin findet das Homo-Faber-Zitat expressiv Eingang in den Text: Der unverhoffte späte Kindsvater recherchiert sein eigenes Schicksal und wird in der Literatur fündig.

Übrigens auch in der Bibel, wo Inzest ein probates Mittel war. Biblische, existenzielle Tiefe und Alles-oder-nichts-Geworfenheit sucht Schlink seinen Figuren immer zu geben, und das haut nicht hin. Auch wenn Wahrheit nicht immer gleichbedeutend mit Wahrscheinlichkeit ist, stört das wenig Authentische der Erzählungen, besonders aufgrund der allzu deutlichen erzählerischen Absicht.

Bei Schlink finden sich auch wirklich schlechte Formulierungen

Bei der eingangs erwähnten Wiederbegegnung einstiger Eheleute, die ihn als beinahe Toten eine Form von Absolution suchen lässt, ist die erzählerische Setzung so plump wie unglaubwürdig. Obwohl er als einer geschildert wird, der nach der Scheidung Bürgermeister der Stadt wurde, also eine Person der Öffentlichkeit war, soll sie angeblich rein gar nichts von seinen Kindern gewusst haben. Die Entfremdung und Distanz der einst Verheirateten soll nach seinem Sündenfall also größtmöglich gewesen sein. Schlink ist auf Fallhöhe aus; auf die Wucht der antiken Tragödien. Nur dass er eben kein Sophokles ist.

Die Sprödheit seines Stils ist etwas anderes als der Minimalismus großer Erzähler wie Richard Yates oder Daniel Kehlmann. Bei Schlink finden sich neben manchen Kalenderweisheiten („Wenn man liebt, braucht man den anderen zum Glücklichsein, nicht zum Überleben“) auch wirklich schlechte Formulierungen, die sich Lektoren wohl nicht zu streichen trauen.

Und wenn Schlink sich einen poetischen Schlenker („Das Gedächtnis ist ein Fluss, der das Schiffchen der Erinnerungen, haben wir es erst einmal auf ihn gesetzt, fort- und fortträgt“) erlaubt, wirkt das wie der Überfall des Märchenonkels auf einen doch so angestrengt unprätentiösen Erzähler.

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Schlinks „Abschiedsfarben“ ist Generationenbuch

Bernhard Schlink: „Abschiedsfarben“. Diogenes. 240 S., 24 Euro
Bernhard Schlink: „Abschiedsfarben“. Diogenes. 240 S., 24 Euro © dpa

Um auf Max Frisch zurückzukommen: Vielleicht macht im Hinblick auf Schlinks neue Erzählungen vor allem schlechte Laune, dass sie so grundsätzlich im gehobenen Bürgertum spielen. Dort, wo sich die Menschen aus „Krieg und Frieden“ vorlesen und ins Konzerthaus gehen. Oder als alte Männer junge Frauen für sich gewinnen. Das darf als Motiv nicht fehlen, wenn vom Herbst des Lebens erzählt wird. Sagen wir so: Es gehört immerhin Mut dazu, derlei Klischees erneut zu bedienen.

Nicht alle Erzählungen in „Abschiedsfarben“ sind glücklose Literaturstücke. Und wahrscheinlich ist dies vor allem auch ein Generationenbuch, dessen Lektüre dem zu jungen Leser fad anmutet, den älteren aber anrührt. Das Gute ist: Man kann über diese Geschichten reden, vielleicht sogar kontrovers. Gerade dann, wenn man sie aus verschiedenen Gründen unmöglich findet.