Hamburg. Das NDR Elbphilharmonie Orchester ändert für Jacques Offenbachs Operette mal eben seine Jobbeschreibung. Und siehe da: Es funktioniert.

Das Schlimmste ist Langeweile. Und Eurydike ist schnell gelangweilt. Dann macht die Schöne eine Schnute und wünscht sich woandershin, speziell in die Arme ihres Liebhabers Aristeus. Nur ist der ein anderer, als er zu sein vorgibt. Seine zweite Identität: Pluto, Hüter der Unterwelt.

Moment mal, Eurydike, ist das nicht die Frau von Orpheus? Dem, der mit seinem Gesang sogar die Götter rührte? Richtig, das ist der eigentliche Mythos. An diesem Abend läuft im Großen Saal der Elbphilharmonie aber Jacques Offenbachs Operette „Orphée aux enfers“.

NDR Elbphilharmonie Orchester ändert für „Orphée aux enfers“ seine Jobbeschreibung

2023 mag für die Welt ein furchtbares Jahr gewesen sein. Wie zum Trotz setzt das Konzerthaus die Tradition fort und frönt zum Jahreswechsel an drei Abenden hintereinander der leichten Muse. Marc Minkowski dirigiert zwölf Sänger und Sängerinnen, das NDR Vokalensemble und das NDR Elbphilharmonie Orchester, das für die Produktion mal eben seine Jobbeschreibung von Sinfoniekonzert zu Musiktheater ändert.

Das Erstaunliche: Es funktioniert. Minkowski ist hierzulande als Spezialist für historische Aufführungspraxis bekannt, für das Operettenfach eher nicht. Aber der Mann ist Franzose. Und das hört man von den ersten Tönen der Ouvertüre an. Man hört es am duftigen, zugleich dunkel timbrierten Streichersound, man merkt es an den überaus biegsamen Tempoänderungen.

„Orphée aux enfers“ in der Elbphilharmonie: Minkowski beweist stilistisches Gespür

Die Genauigkeit, die der Dirigent Offenbachs Tonsprache angedeihen lässt, die Liebe, mit der er die Themen formt und die komischen Effekte herausholt – etwa zwei demonstrativ plumpe Paukenschläge am Ende einer sanften Phrase –, verraten dann doch das geübte stilistische Gespür. Minkowski nimmt das freche Tschingderassabumm genauso ernst wie die Galanterie höfischer Barockmusik.

Der Orpheus-Mythos ist unzählige Male vertont worden, am berühmtesten ist die Oper von Gluck. Wer kennt nicht die herzzerreißende Geschichte: Die sonst nicht besonders mitfühlenden griechischen Götter machen für den Sänger eine Ausnahme, er darf Eurydike aus dem Totenreich zurückholen. Allerdings nicht ohne den auf dem Olymp üblichen Haken im Kleingedruckten. Orpheus darf sich auf dem Rückweg nicht nach Eurydike umdrehen, sonst muss sie endgültig im Reich des Todes bleiben. Er hält sich auch dran. Aber sie kennt den Deal ja nicht und zweifelt und drängelt so lange, bis er doch nachgibt.

Orpheus wird bei Offenbach zum mittelbegabten Musiker

So geht eine Tragödie. Offenbach allerdings hat den Stoff im dekadenten Paris des Jahres 1858 ins süffisant Komische gedreht. Glucks Arie „Ach, ich habe sie verloren“ klingt immer mal an, aber haltlos verschnulzt. Gattenliebe über den Tod hinaus? Brauchen wir nicht. Treue wird überschätzt.

Das hehre Mythenpersonal hat Offenbach zu einer Belegschaft voll menschlich-allzumenschlicher Schwächen umgeformt. Der göttlich begnadete Orpheus ist bei ihm ein mittelbegabter Musiker. Er hätte offenkundig gar nichts dagegen, die Angetraute los zu sein – und sie umgekehrt auch nicht. Das setzt der Regisseur Romain Gilbert virtuos in Szene.

„Marmor, Stein und Eisen bricht“ wiegt kleine Schwächen auf

Die Eheleute schenken sich nichts: Marc Mauillon gibt Orpheus als genervten Spießer, der sich von Tamara Bounazou als Eurydike allerdings im Handumdrehen aus der Reserve locken lässt. Die beiden liefern sich ein atemberaubendes Duell, er bewaffnet mit seinem Geigenbogen und sie mit der Geige. Singen tun sie dabei natürlich auch und verwickeln zudem den Konzertmeister in das Handgemenge.

Der darf nämlich Orpheus’ neueste Komposition spielen, ein eher mäßig inspiriertes Violinkonzert. Und das, wo Eurydike Geige doch scheußlich findet. Wenn Bounazou, ganz Rampensau, das Stakkato der Geige nachäfft und dafür ihr üppiges Soprantimbre zu einem Krähen verfremdet, während Orpheus von seinem Werk sichtlich begeistert ist, dann ist schon klar, für diese Ehe kommt jede Hilfe zu spät. Da kann die öffentliche Meinung in Gestalt der Mezzosopranistin Aude Extrémo noch so sehr zu den säuerlich-strengen Klängen einer Bach-Parodie auf Einhaltung der Konvention bestehen.

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Gilbert bringt so viel Esprit in das Bühnengeschehen wie Minkowski in die Musik. Nur bei einigen Ensembleszenen könnten die vielen Göttinnen ihre Tanzschritte kohärenter setzen, da geht ein wenig optische Energie verloren. Warum der einzige deutsche Sänger, der Tenor Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, als betrunkener Styx deutsch sprechen muss, erschließt sich nicht ganz. Doch wenn er dann „Marmor, Stein und Eisen bricht“ zitiert, haben er – und die Regie – gewonnen.

Und bei dem berühmten Cancan gibt es sowieso kein Halten mehr. Es scheppert das Becken, es fliegen die Beine. Da muss unbedingt Champagner drauf. Für die Wirklichkeit ist auch morgen noch Zeit.

Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Fassung dieses Artikels haben wir fälschlicherweise ein Bild des Dirigenten Raphaël Pichon gezeigt. Wir bitten um Entschuldigung.