Hamburg. Der ehemalige Hamburger Generalmusikdirektor dirigiert das Philharmonische Staatsorchester. Das Publikum jubelt minutenlang.
Wahnsinn, wie die Zeit vergeht. Mehr als 18 Jahre ist es jetzt her, seit Ingo Metzmacher in Hamburg Tschüs gesagt und sich als Generalmusikdirektor verabschiedet hat. Eine Menge ist seitdem passiert. Die Eröffnung der Elbphilharmonie. Klassik-Boom. Corona-Krise. Personelle Wechsel beim Philharmonischen Staatsorchester, auch an wichtigen Positionen. Und Metzmacher selbst? Ist jetzt 66, da fängt das Leben bekanntlich erst an. Der Dirigent wirkt immer noch energisch wie eh und je, wenn zügig aufs Podium schreitet, die letzten Meter zum Pult beinahe joggt.
Elbphilharmonie: Wenn Ingo Metzmacher mit geballter Faust den Takt ankurbelt
So frisch wie sein Auftritt ist auch sein Geist. Die musikalischen Vorlieben sind dieselben geblieben. „Für mich ist das 20. Jahrhundert immer der Ausgangspunkt“, hat Metzmacher im März 2021 gesagt, bei seiner Rückkehr zum Philharmonischen Staatsorchester, damals in einem Livestreamkonzert. Dieses Credo prägt auch den jüngsten Auftritt, jetzt wieder in der vollen Elbphilharmonie.
Er beginnt mit Musik von Charles Ives, einem seiner erklärten Lieblingskomponisten, und dessen „Central Park in the Dark“. Ein Kopfkinostück, das sein Publikum nach New York entführt. Wir sitzen auf einer Bank im Central Park, mitten in der Nacht. Langsame Pianissimo-Figuren beschwören die Stimmen der Stille und der Natur. Da könnten die Philharmoniker noch leiser, noch geheimnisvoller flüstern.
Metzmacher führt die Stimmen der Natur mit ruhiger Hand bis ins Verstummen
Nach und nach dringen die Geräusche der Stadt ans Ohr. Die Bahn rattert vorbei. Eine Sirene heult. Und dann ein Ragtime, auf Klavier gespielt, in einem Apartment in der Nähe des Parks. Nightlife in Manhattan, von Ives zu einer Collage verdichtet. Die Schichten überlagern sich, schwellen an, ballen sich zu dissonantem Lärm, der plötzlich abbricht. Am Ende bleiben die Stimmen der Natur, von Metzmacher mit ruhiger Hand bis ins Verstummen geführt.
Faszinierend, wie Charles Ives schon 1906 den Sound der Großstadt wahrnahm und in Töne fasste. Als musikalisches Abbild jener Fülle an Eindrücken und Geräuschen, mit der wir heute noch stärker denn je konfrontiert sind – und die uns oft auch überfordert.
Ingo Metzmacher dirigiert in der Elbphilharmonie Mahlers Siebte straff und wuchtig
Die Komplexität der Welt abbilden, mit all ihren Widersprüchen, Rissen und Gegensätzen: Das tut auch Gustav Mahlers Siebte Sinfonie, das Hauptwerk des Programms. Sie ist fast zeitgleich mit Ives‘ Stück entstanden und durchaus seelenverwandt, wurzelt aber in einer anderen Tradition. Mahler besetzte seine rund 80-minütige Sinfonie mit einem Riesenorchester, es umfasst neben Streichern, Bläsern und Schlagwerk auch Harfen, Mandoline und Gitarre. Der Komponist stand hier noch mit einem Bein in der Romantik. Das andere setzte er auf den brüchigen Boden der Moderne.
Diese Ambivalenz, das Miteinander von vertrauten Gesten – etwa in Zitaten aus Wagners „Meistersinger“ – und Erschütterungen, durchzieht die ganze Sinfonie. Metzmacher dirigiert sie straff und wuchtig, aber auch mit dem richtigen Gespür für den mitunter wienerischen Ton der Musik und für die eigentümlichen Nachtstimmungen. Sie prägen den besonderen Charakter des Stücks.
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Schon der erste Satz hat diese Aura, er verwebt (trauer)marschartige Rhythmen mit dunklen Melodien zu einer Art komponiertem Albtraum. Über den Staccati von Streichern, Fagott und Klarinetten – die einen Moment brauchen, um ihre Präzision zu finden – erhebt sich das Tenorhorn. Weich und klagewarm klingt der instrumentale Gesang.
Die erste von vielen markanten Solopassagen der Sinfonie, in denen sich die Philharmoniker auszeichnen. Ob die Hörner ein zartes Echo in den Raum rufen und damit die erste Nachtmusik anstimmen, ob Geige und Cello schwelgen, die Trompete schmettert oder das Kontrafagott knarzt: Die Solistinnen und Solisten spielen exzellent, sie demonstrieren das hohe Niveau des Orchesters. Nicht als Einzelkämpfer, sondern als Team.
Elbphilharmonie: Metzmacher nicht elegant, aber gut
Es sieht zwar nicht so maestromäßig elegant wie bei anderen aus, wenn Metzmacher mit geballten Fäusten den Takt ankurbelt oder mit der flachen Hand seine Zeichen gibt. Aber es funktioniert. Die Bläser greifen sicher ineinander, wenn sie Mahlers Motivsplitter weiterreichen. Und auch dort, wo Stimmgruppen weit auseinander sitzen, wie bei den Harfen rechts und den Celli links auf der Bühne, kommen die Einsätze zusammen.
Die Philharmoniker sind hoch konzentriert, sie wirken sehr präsent. Im Piano und Pianissimo könnte Metzmacher mit dem Orchester sicher auch bei Mahler noch weiter gehen, noch mehr Nuancen ausdifferenzieren. Aber auch so erkundet die Aufführung eine große Bandbreite an Stimmungen. Sie reicht von Anklängen an eine italienische Serenade und schattenhaft spukenden Gesten bis hin zur Jubelpose am Schluss.
Die Akustik der Elbphilharmonie verträgt diese Art Repertoire sehr gut
Metzmacher formt einen breiten Spannungsbogen über das lange Stück und führt die Sinfonie in ein Finale, das bei ihm trotz Beckenrauschen und Blechbläserpracht nie brachial klingt. Er bleibt auch in der Überwältigungsmusik ganz klar im Kopf – und hat dabei den Saal auf seiner Seite.
Die Akustik der Elbphilharmonie verträgt diese Art Repertoire sehr gut. Mahlers Klangmassen und das komplexe Geschehen seiner Partitur dürfte nur an wenigen Orten so transparent durchzuhören sein wie hier. Auch deshalb ist die Aufführung ein Erfolg. Das Publikum feiert Metzmacher und das Orchester minutenlang, dessen Soli und Stimmgruppen sich alle einen verdienten Sonderapplaus abholen.