Hamburg. Tuvia Tenenbom hat ein Jahr in einem orthodoxen Stadtteil Jerusalems gelebt. Seine Erfahrungen bei „schönen Brüdern und Schwestern“
Die Tora-treue, strenggläubige Orthodoxie im Judentum, hierzulande auch gern mit der Vorsilbe Ultra versehen, übt auf Juden wie Nichtjuden anscheinend eine ganz besondere Anziehung aus. Das legt etwa der große internationale Erfolg der israelischen Serie „Shtisel“ nahe.
Jetzt hat sich dazu auch Tuvia Tenenbom, der jüdische Investigativ-Journalist und Autor, dem bei aller Ernsthaftigkeit seiner Sujets stets der Schalk im Nacken sitzt, mit einem 575 Seiten dicken Konvolut zu Wort gemeldet: „Gott spricht Jiddisch“. Tenenbom war im Alter von 17 Jahren aus dem orthodoxen Stadtviertel Mea Schearim in Jerusalem abgehauen, weil es ihn nach intellektueller wie sexueller Freiheit dürstete. Sein Weg führte den heute 66-Jährigen nach New York, wo er studierte und später mit seinem „Jewish Theater“ ein lebendiger Teil der pulsierenden Kulturszene wurde.
Tuvia Tenenbom schreibt über einen Ort, an dem Gott immer mit am Tisch sitzt
Doch die gesellschaftlichen Friktionen durch Corona, Cancel Culture und eine, wie er es nennt, zunehmende „Puritanisierung“ der sogenannten fortschrittlichen Kräfte trieben ihn zunehmend um – und schließlich beschloss er, den Ort seiner Kindheit, den er „verraten“ habe, wieder aufzusuchen. So kam es gut 50 Jahre nach dem abrupten Abschied von der chassidischen Kultur Mea Schearims zu einer Heimkehr, die länger als ein Jahr währte – und zu seinem sechsten Buch. Tenenbom schreibt auf, was ist – und das ist, wie stets bei ihm, häufig skurril und urkomisch.
Ursprünglich hätte dieses Buch eine Abrechnung werden sollen, sagte Tenenbom unlängst, doch es kam anders. Ihm, Enkel eines chassidischen Oberrabbiners und Sohn eines Rabbiners, begegnete auf seiner Spurensuche nach der eigenen Vergangenheit und der orthodoxen Gegenwart jede Menge Empathie. So gelingt ihm eine ebenso geglückte wie beglückende Beschreibung einer weithin unbekannten Gruppe von Menschen, die häufig aus Unkenntnis als negatives Zerrbild „des Juden“ herhalten muss.
Tenenbom: Oft wird nur sehr oberflächlich über Israel berichtet
Immer wieder erzählt Tenenbom von deutschen Journalisten, die über „Israel“ berichten, ohne ein Wort Hebräisch, Arabisch oder Jiddisch zu können. Einen von ihnen habe er in einem Café in Tel Aviv gefragt: „Wie lange sind Sie schon hier?“ „Drei Tage“, antwortete dieser. Tenenbom: „Was machen Sie hier?“ Der deutsche Journalist: „Ich schreibe ein Buch.“ Tenenbom: „Wie lautet der Name des Buches?“ Der Journalist: „Israel. Gestern, heute und morgen“. Ob Anekdote oder nicht; der Dialog steht für die Oberflächlichkeit, die viele Journalistinnen und Journalisten in Bezug auf Israel auszeichnet.
Für seine Reise ins Herz der Orthodoxie nahm sich Tenenbom Zeit. Für den Autor ist es eine Frage des Respekts, sich ausführlich mit den Menschen zu beschäftigen, über die er schreibt. Manchmal dauert es stundenlang, bis er sich ein Bild gemacht hat – oder eines aus dem Dialog entsteht. Ob in Jeschivas, den religiösen Lehranstalten, in Büros von Rabbinern oder am Familientisch eigentlich fremder Leute zum Schabbat-Mahl: Tenenbom redet, singt und isst sich mit der Zeit durch Mea Schearim. Denn das Essen ist ein zentraler Bestandteil des Judentums – des orthodoxen schon gar. Und so schwärmt er vom besten „Gefilte Fish“ in Scheiben, nicht zu vergleichen mit „dem schrecklichen“ im Glas. Immer mit am Tisch: Gott. Omnipräsent in den Gebeten, Gesprächen, Gesängen der Charedim.
Dass Tenenbom Jiddisch spricht, ist dabei der Schlüssel zu Vertrauen und Information. „Wenn wir mit dir Jiddisch reden, dann ist es, als sprächen unsere Großväter mit deinem Großvater“, hätten die Leute ihm gesagt. Sie sahen also seine Familie in ihm – und damit ihn, den Abtrünnigen, Zurückgekehrten als Teil ihrer großen Familie. Es war – hinter all den strengen Routinen, die die strikte Glaubensauslegung vorgibt, die unverstellte Menschlichkeit, die ihn am meisten beeindruckt hat in Mea Schearim.
Dabei ist Tenenbom durchaus kritisch, widerlegt seinen Gesprächspartnern frömmelnde Verbote, man dürfe dies oder jenes nicht – vor allem Mädchen anschauen – empirisch, indem er beweist, dass sie nirgends geschrieben stehen, beklagt einen zunehmenden Götzenkult um verstorbene Rabbiner und deren Grabstätten, sehnt sich mitunter nach den Cafés im Prenzlauer Berg, wo er kaffeetrinkend den langbeinigen deutschen „Ladys“ hinterherträumt.
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Doch die schönsten Mädchen, da ist er sich sicher, die gibt es in Mea Schearim. Nicht nur deshalb schreibt Tenenbom am Schluss seines so wunderbaren wie lehrreichen Buches: „Ich liebe die Menschen hier und werde sie vermissen, vor allem, wenn ich wieder unter den hässlichen nicht binären Progressiven in Amerika, Deutschland und dem Rest der zerbröckelnden westlichen Demokratien unserer Zeit wandle. […] Lebt wohl, meine attraktiven und schönen Brüder und Schwestern. Und obwohl ich mich endgültig verabschiede, werde ich euch immer in meinem Herzen behalten.“
Tuvia Tenenbom: „Gott spricht Jiddisch“, suhrkamp nova, 575 Seiten, 20 Euro