Hamburg. Bejubelt, aber diskutabel: Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion mit einer denkwürdigen Aufführung von Mendelssohns „Elias“.
In der Barockmusik sind sie spitze. Gerade mit ihren Bach-Interpretationen haben Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion Maßstäbe gesetzt, mit der Verbindung von Transparenz und Sinnlichkeit. Aber wie sieht‘s beim romantischen Repertoire aus? Erreichen sie da dasselbe Topniveau?
Nach dem umjubelten Auftritt mit Mendelssohns „Elias“ im Großen Saal der Elbphilharmonie lautet die Antwort eindeutig: Ja. Mit ganz wenigen Abstrichen.
Mendelssohns „Elias“ in der Elbphilharmonie: Dirigent voll hypnotischer Energie
Der schlanke, bewegliche Klang des Orchesters von Pygmalion steht auch Mendelssohns Oratorium bestens, dessen Anlage auf barocken Vorbildern fußt. Der Sound ist gut ausbalanciert, auch dank der historischen Instrumente. Die Bläser spielen farbsatt und klar artikuliert, decken die Streicher aber nicht zu und lassen auch Raum für den Chor.
Aber mit so einem durchlässigen Klang punkten andere Ensembles auch, das gehört zum Standard der historisch informierten Aufführungspraxis. Wirklich aufregend ist, was Pichon damit anstellt. Wenn er wie auf heißen Kohlen auf dem Podium wippt und eine hypnotische Energie ausstrahlt, entfacht der feingliedrige Franzose eine fesselnde Ausdruckskraft.
Er setzt die Aufführung unter Strom. Ob bei gewagt langen Pausen, mit denen er sein Publikum auf die Folter spannt, wie beim Auftritt des Engels kurz vor Schluss, oder wenn er die Schlagzahl erhöht. Dort, wo der Prophet Elias die Baalspriester anstachelt, ihre heidnischen Götter herbeizurufen, fällt er dem Chor ungeduldig ins Wort.
Elbphilharmonie: Pichon macht das biblische Geschehen lebendig
Pichon spitzt die Kontraste des Oratoriums zu und macht das biblische Geschehen lebendig. Als das Volk, aufgewiegelt von Königin Isebel, Elias umbringen will („Wehe ihm, er muss sterben!“), verschärft er das Tempo drastisch und offenbart die beängstigende Wut des Lynchmobs. Umgekehrt nimmt sich Pichon aber auch viel Zeit, um die innigen Momente auszukosten. Er zelebriert das Vertrauen auf die unendliche Gnade Gottes („Wirf dein Anliegen auf den Herrn“) extrem langsam und dimmt den Klang dafür ins allersanfteste Pianissimo. Berückend.
Dieser Zeitlupenzauber funktioniert allerdings nur, weil Pichon die Passage – eigentlich für Soloquartett geschrieben – vom ganzen Chor singen lässt. Das bleibt nicht sein einziger durchaus diskutabler Eingriff in Mendelssohns Stück. Man könnte etwa streiten, ob es zu weit geht, dass er die Szene mit den Baalspriestern gekürzt und damit noch weiter verdichtet hat.
Der Chor fleht, staunt, flüstert und wütet
Aber auch solche Eingriffe folgen einer klaren Linie. Raphaël Pichon bestärkt die Dramatik des Oratoriums. Er lässt den Chor flehen, staunen, flüstern und wüten und reizt eine große dynamische Bandbreite aus. Dass die Sängerinnen und Sänger keine deutschen Muttersprachler sind, fällt selten ins Gewicht. Nur hier und da kommt ihnen der genießerische Zugang zur Musik in die Quere; gerade in den hymnischen Passagen („Und tue Barmherzigkeit“) gehen die Konsonanten im schönen Klang unter, da ist der Chor kaum zu verstehen.
Anders als Stéphane Degout, der die Partie des Elias textnah gestaltet. Der französische Bariton verkörpert die anfängliche Härte und alttestamentarische Wucht der Figur, aber auch ihre verletzlichen Seiten empathisch und mit fokussierter Stimme. Auch wenn man sich manchmal noch mehr Farben vorstellen könnte, wie sie etwa ein Michael Volle als Elias mitbringt: Degout macht das stark und mitreißend – und hat auch die Kondition, die diese Partie braucht. Er steht im Zentrum des Abends, wird am Ende zu Recht als Erstes gefeiert.
Sopranistin Julie Roset schafft unvergesslichen Moment
Neben ihm ragen zwei Sängerinnen aus dem Solistenensemble heraus. Die Mezzosopranistin Ema Nikolovska, die ihr edles Timbre wandlungsfähig führt und mal sehr leise und dann wieder wunderbar giftige Töne wagt. Und die junge Sopranistin Julie Roset, eine Riesenentdeckung. Sie hat zwar nur kleine Partien zu singen, den Auftritt des Knaben und zwei Ensemblestücke. Aber wie sie das macht, ist hinreißend.
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Beim Engelsterzett („Hebe deine Augen auf“) sind sie und zwei Kolleginnen des Chores in einem Rang links oben, weit über der Bühne platziert. Rosets heller, aber zugleich warmer Sopran gibt dem Klang einen silbrigen Schimmer. Ebenso wie beim „Heilig, heilig“, das mit ihrem zarten Ruf beginnt. Wie traumwandlerisch sicher sie ihre hohen Töne setzt, lupenrein, aber nicht steril, wie sich da die Idee einer Engelsstimme zu materialisieren scheint: Das ist einer von diesen unvergesslichen Momenten, für die man in Konzerte geht.