Hamburg. In „Meanwhile“ stellen aus Russland stammende Künstlerinnen ihren Alltag im Exil vor. Eine so stille und aufwendige wie kluge Arbeit
Die Halle im Barmbeker Theaterzentrum Wiese ist beinahe leer. Ein Bett ist aufgebaut, ein paar Stühle, ein Teppich. Und Topfpflanzen, viele Topfpflanzen. Tanya Chizhikova, Yana Isaenko und Anna Semenova-Ganz bewegen sich zwischen den Pflanzen, langsam, konzentriert. Isaenko liegt im Bett, Semenova-Ganz wischt den Boden, Chizhikova versucht, mit Hilfe einer Sprachlern-App ihr Deutsch zu verbessern, blechern tönen Vokabeln durch den Raum. Ansonsten passiert wenig. Acht Stunden lang.
Exil-Performance im Theaterzentrum Wiese: Es passiert wenig – acht Stunden lang
Acht Stunden dauert die Performance „Meanwhile“ von Chizhikova, Isaenko und Semenova-Ganz, eine installative Arbeit, in der sich das Publikum frei bewegt. Man kann kommen und gehen, wie man will, man kann in den ausgelegten Büchern stöbern (viel Theatertheorie, von Bojana Kunst oder von Twlya Tharp etwa), man kann sogar von den Schokolade naschen, die auf einem kleinen Tischchen bereit liegt, was sich allerdings kaum jemand traut. Aber wirklich immersiv ist „Meanwhile“ nicht, man wird nicht Teil des Geschehens, im Gegenteil macht es den Eindruck, als ob das Trio gar nicht bemerken würde, dass da noch jemand im Raum ist. Man ist ein Geist, der drei Menschen bei ihrem auf den ersten Blick eintönig wirkenden Alltag zuschaut.
Die Künstlerinnen stammen aus Russland. Semenova-Ganz lebt schon seit mehr als zehn Jahren in Hamburg, sie studierte hier Performance Studies und hatte eigentlich vor, ihr Wissen im Anschluss in Russland zu nutzen. Die konservative Kulturpolitik unter Wladimir Putin verhinderte das, mittlerweile ist sie als Tanzdramaturgin etabliert. Und lernte dabei Chizhikova und Isaenko kennen, die eine preisgekrönte zeitgenössische Choreografin in Moskau, die andere Videokünstlerin. Chizhikova und Isaenko arbeiten seit 2019 zusammen und sind auch privat ein Paar.
Es sei für sie unmöglich, in Russland zu leben, sagen die Künstlerinnen
Spätestens als die russische Regierung ihre Feindseligkeiten gegen die LGBTIQ-Gemeinschaft intensivierte, wurde die Arbeit in Moskau zunehmend unerträglich, weswegen sich das Paar entschied, das Land zu verlassen. Richtung Hamburg, wo sie mit Semenova-Ganz einen Andockpunkt hatten. Chizhikova beschreibt, dass es heute unmöglich sei, in Russland zu leben, es sei gefährlich.
Die Erfahrung des Exils prägt „Meanwhile“. Das Publikum beobachtet Menschen, die ihren Alltagstätigkeiten nachgehen, schlafen, aufräumen, lesen, aber sie haben eigentlich nichts zu tun, sie versuchen, den Tag zu ordnen – so sieht das Leben von jemandem aus, der in einen ungewohnten sozialen Kontext geworfen wird, noch keine Bindungen hat und wie in einer Blase vor sich hin existiert.
Hauptsache, man ist erst mal in Sicherheit, die neue Umgebung ist zweitrangig
Parallel dazu flimmern auf einer Videowand kunstvoll verfremdete Filmszenen: zufällige Aufnahmen vom Hamburger Dom etwa, die riesigen Arme eines Karussells, die sich unwirklich heben und senken, schwarzweiß und in Zeitlupe. Oder eine Straßenszene, in der sich die Kamera unendlich langsam entlang von graffitiübersäten Altbauten bewegt, aufgenommen im Karoviertel, aber die Bilder könnten von überall stammen, aus Berlin-Kreuzberg, aus Leipzig-Connewitz, aus der Kölner Südstadt. Es ist egal, es sieht alles gleich aus. Auch das ist typisch fürs Exil: Hauptsache, man ist erstmal in Sicherheit, die neue Umgebung ist zweitrangig.
Während der achtstündigen Performance bewege sich das Trio mehrmals durch die Halle, erzählt Semenova-Ganz. Stühle, Bett, Pflanzen würden zusammengepackt und von einer Ecke in die andere geschoben. Das ist Migration: Man nimmt seine Habseligkeiten und richtet sich an einem neuen Ort ein. Und man gewöhnt sich daran, dass nichts von Dauer ist.
„Meanwhile“: Wenn man im Exil etwas im Überfluss hat, dann ist das Zeit
Melancholie durchzieht diese Aktionen, aber gleichzeitig auch eine tiefe Ernsthaftigkeit. Es gehe nicht darum, besonders langsam zu agieren, meint Chizhikova, auch wenn viele Bewegungen in Zeitlupe ausgeführt werden – wenn man im Exil etwas im Überfluss hat, dann ist das Zeit. Es gehe darum, konzentriert zu handeln, das Alltägliche mit Bedeutung aufzuladen. Und je länger die Performance dauert, umso konzentrierter blickt auch das Publikum auf das, was da passiert, zwischen Gummibaum und Raumbefeuchter. Einmal drehen sich Semenova-Ganz und Isaenko im Kreis, und plötzlich fällt einem auf, dass das ja Pirouetten sind, extrem langsam zwar aber in beeindruckender Synchronizität. Chizhikova kommt vom Tanz, das fällt einem da wie Schuppen von den Augen.
Theaterzentrum Wiese: „Meanwhile“ bekam eine kleine Förderung vom Hilfsfonds „Art Connects“
Was das Leben im Exil auch bedeutet: prekäres Leben. Aktuell konzentriert sich die Kulturförderung darauf, ukrainischen Künstlern, die vor dem russischen Angriff auf ihre Heimat geflohen sind, eine Perspektive zu bieten. Menschen wie Chizhikova und Isaenko, die als Russinnen ebenfalls vor dem Putin-Regime fliehen mussten, fallen da leicht durchs Raster. „Meanwhile“ bekam eine kleine Förderung vom Hilfsfonds „Art Connects“, der Projekte mit schutzsuchenden Kulturschaffenden finanziert, gleichwohl sind weitere Aufführungen der Performance erstmal nicht drin.
Weitere Kritiken
- Bjarne Mädel in der Laeiszhalle: „Als wären alle mit dem Bus aus Pinneberg gekommen“
- Elbphilharmonie: Wenn Ingo Metzmacher mit geballter Faust den Takt ankurbelt
- Julia Hülsmann in der Laeiszhalle – als Zugabe gab es einen Prince-Song
Dabei ist „Meanwhile“ längerfristig angelegt – eine Installation, die nicht nur einen acht Stunden langen Tag dauert, sondern etwas, das sich immer weiterentwickelt, etwas, bei dem die Aktionen aus sich selbst heraus entstehen. Etwas, das Zeit braucht. Aber mit Zeit kennt sich das Trio aus, und, wer weiß, womöglich tut sich eine Fördermöglichkeit auf, und ermöglicht dieser stillen, aufwendigen, klugen Arbeit eine Weiterführung. Irgendwann erscheint ein Text auf der Videowand: „To be continued“. Fortsetzung folgt.