Hamburg. Ausverkaufte Arena, viele Gaststars – und Notarzteinsatz hinter der Bühne. Kurz vor Beginn stand das „Lordfest“ auf der Kippe.

Wenn die Hamburger Band Lord Of The Lost etwas verspricht, dann hält sie es auch. „Unser Ziel ist, mindestens Letzter zu werden“, sagte Sänger Chris Harms im Mai im Abendblatt-Interview vor dem Auftritt mit dem Song „Blood & Glitter“ beim Eurovision Song Contest in Liverpool. Und das Ziel wurde erreicht. Und am Sonnabend will die Band das jährliche „Lordfest“ in der edel-optics.de Arena in Wilhelmsburg feiern. Um jeden Preis, komme was wolle.

Lord Of The Lost in Hamburg: Bassist Klaas Helmecke erleidet backstage heftigen Migräneanfall

Denn das Konzert steht bis kurz vor Showbeginn auf der Kippe: Während die Gästebands des Abends Combichrist, Schattenmann und Soulbound sich durch ihre Programme brettern, erleidet Lord-Bassist Klaas Helmecke backstage einen so heftigen Migräneanfall, „dass er nicht mal mehr weiß, wo er gerade ist“, wie Chris Harms den Fans auf der Bühne besorgt erklärt. Bis zum Soundcheck ist noch alles in Ordnung, dann wird Helmecke unvermittelt müde, sein Zustand verschlechtert sich rapide, und als keine Kommunikation mehr möglich ist, muss ein Notarzt gerufen werden.

Ein schwerer Schock für Band und Crew. Dabei hat Lord Of The Lost richtig viel Schwung mit nach Wilhelmsburg gebracht: Das zehnte Album „Blood & Glitter“ war vor einem Jahr die erste Platte an der Chartspitze der 2009 gegründeten Band, und das traditionelle „Lordfest“, bis 2019 in der Markthalle gefeiert, ist an diesem Abend mit 4000 Fans ausverkauft. Nächstes Jahr ist bereits die noch größere Sporthalle gebucht. Am Donnerstag zuvor wurde als Aufwärmkonzert das Logo zerlegt. Und dann das.

Lordfest in Hamburg: Crewmitglied Benji springt spontan als Ersatzbassist ein

Aber die Rettung, der Held des Abends ist ganz nah: Crewmitglied Benjamin „Benji“ Mundigler, eigentlich als Backliner der Band für Aufbau und Pflege der Verstärker und weiteren Gerätschaften auf der Bühne zuständig, schnappt sich den Bass und übt backstage so gut und schnell es geht eine Stunde lang das eigentlich zwei Stunden lange Programm. Er ist zwar als Bassist der Band Scarlet Dorn und Toningenieur der Dulsberger Chamäleon Studios für Lord Of The Lost, Joachim Witt, Swiss und die Andern und weitere Künstler wahrlich kein Anfänger, trotzdem dürften die Nerven flattern. Es ist, als würde der Eismaschinenfahrer als Torwart für ein Eishockey-Profiteam einspringen (passiert 2020 in Toronto). Chris Harms wühlt für Mundigler noch einen zu weiten schwarzen Glitzerdress aus der Kostümkiste und los geht es.

Mehr zum Thema

„The Curtain Falls“, „No Respect For Disrespect“ und „The Future Of A Past Life“ bilden den Auftakt, und Mundigler macht seine Sache hervorragend neben Chris Harms, Gitarrist Pi, Keyboarder Gerrit Heinemann und Schlagzeuger Niklas Kahl. „Die drei Songs haben wir schon mal geschafft. Unfassbar großer Respekt“, bedankt sich Harms sowohl bei seinem Aushilfsbassisten als auch bei den Fans, „ihr seid großartig“. So kann es dann weitergehen durch 14 Jahre Bandgeschichte, durch eine auch am schwarzbunt gemischten Publikum ablesbare Stilentwicklung von Metal zu Goth-Rock und -Pop.

Lord Of The Lost spielen Hamburg-Konzert: „Wir sind jetzt richtige Mainstream-Schlampen“

Wacken trifft Liverpool, das ist auch ablesbar an einigen Coverversionen in der Arena in Wilhelmsburg. Iron Maidens „Children Of The Damned“ ist ebenso dabei wie Gastsängerin Anica Russo: Die sechstplatzierte beim deutschen ESC-Vorentscheid singt mit Harms ihr Lied „Once Upon A Dream“ und den Cutting-Crew-Klassiker „(I Just) Died In Your Arms Tonight“. Eine sehr liebe Geste von Harms, der als Musiker, Gastsänger und Produzent unglaublich weit vernetzt ist und das komplette Feld von Geknüppel mit Heaven Schall Burn bis Schlager mit Nino de Angelo abdeckt. „Wir sind jetzt richtige Mainstream-Schlampen“, unkt Harms.

Ein erkrankter Bassist von Lord Of The Lost, eine blutige Lippe von Sänger Chris Harms und auch beim Abendblatt-Fotografen lief nicht alles wie geplant: Chris Harms in Schwarz-Weiß. Ist doch auch schön.
Ein erkrankter Bassist von Lord Of The Lost, eine blutige Lippe von Sänger Chris Harms und auch beim Abendblatt-Fotografen lief nicht alles wie geplant: Chris Harms in Schwarz-Weiß. Ist doch auch schön. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf

Weiter geht es mit einem langen Block Lord Of The Lost, mit „One Last Song“, „Full Metal Whore“, „Drag Me To Hell“ und „Six Feet Underground“. Und als wäre der Abend nicht turbulent genug, schlägt sich Chris Harms versehentlich das Mikrofon an die Lippen, sodass das Blut nur so tropft. Mund und Gitarre abwischen, weitermachen. „Endlich passiert hier mal was“, sagt Harms lakonisch und begrüßt auch schon die nächsten Gäste auf der Bühne: Die Hamburger Crossover-Punker Swiss und die Andern, mit „Erstmal zu Penny“ im Mai an der Spitze der Albumcharts und vor einer Woche Gastgeber in der ausverkauften Sporthalle, spielen mit Lord Of The Lost „Schwarz Tot Gold“ sowie „Schrei nach Liebe“ von Die Ärzte.

Lordfest in Hamburg: Auch der finnische ESC-Ohrwurm „Cha Cha Cha“ wird gespielt

Dann ist es Zeit für das Finale. „Forevermore“ und „Blood For Blood“ leiten über zu „Cha Cha Cha“, dem finnischen ESC-Beitrag dieses Jahres, mit dem Käärijä hinter Loreen aus Schweden den zweiten Platz holte. Für das abschließende „Blood & Glitter“ kommen nahezu alle Musiker des Abends und Anica auf die Bühne zurück, große Luftballons hüpfen über das Publikum, und das wohl denkwürdigste Konzert von Lord Of The Lost ist Geschichte. Am Tag danach geht es Klaas Helmecke schon etwas besser, wie Lord Of The Lost mitteilt, und Benjamin Mundigler hat „jetzt offiziell Heldenstatus“. Absolut verdient!