Hamburg. 25 Jahre alte Hamburgerin erhält in sehr politischer Zeremonie im Thalia Theater den mit 10.000 Euro dotierten Boy-Gobert-Preis.

Unprätentiöser kann man zur Preisverleihung nicht auflaufen: Pauline Rénevier trägt einen heruntergekrempelten Blaumann, schwere Arbeitsschuhe, Tanktop. Und die Bühne des Thalia Theaters betritt sie nicht vom Seitenaufgang, sie klettert einfach von der ersten Reihe aus hoch, um sich ihren Boy-Gobert-Preis abzuholen.

Allerdings macht das 25 Jahre alte Thalia-Ensemblemitglied nach diesem Start erst mal konventionell weiter – sie begrüßt das Publikum, die Jury, ihre Eltern. Um dann das zu sagen, was wirklich wichtig ist. Um die Arme hochzureißen und „Woohoo!“ zu brüllen.

Rénevier hat sich einen genauen Ablaufplan für die Preisverleihung gemacht. Punkt eins: „Woohoo!“, check!, Punkt zwei: „Dies und das“, Punkt drei: „Den Mond holen“, Punkt vier: „Weltrekord brechen“, das wird lustig. Wird es dann aber gar nicht. Denn schon „Dies und das“, Grußworte und Reden, stellt klar, dass es wenig Grund zu Lachen gibt.

Pauline Rénevier wird im Thalia Theater auf Händen getragen – ein Weltrekord!

Thalia-Intendant Joachim Lux beschreibt den Charakter des mit 10.000 Euro dotierten Preises als „Zukunftspreis“, der an Nachwuchskräfte der Hamburger Theaterlandschaft gehen soll. Bloß: „An Zukunft ist kaum zu denken!“ Lux, der wie oft politisch (und auch tagespolitisch) argumentiert, schaut angesichts von Krieg, Klimakatastrophe, Rechtsruck und Antisemitismus skeptisch auf das, was kommt. Wie soll man da guten Gewissens einer jungen Schauspielerin viel Glück auf ihrem kommenden Weg wünschen?

Der Intendant mag skeptisch sein, verzweifelt ist er aber nicht, ein bisschen Hoffnung liefert ihm weiterhin die Kunst. Und, ja, er nennt auch Beispiele, in denen das Thalia Theater es geschafft hatte, dem Gespräch den Vorzug vor der Gewalt zu geben: den „Gottesdienst der Künste“ vor Beginn des zweiten Corona-Lockdowns, das Konzert der ukrainischen Band Dakh Daughters nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, zuletzt den Abend „Das Schweigen brechen“ angesichts des Hamas-Terrors.

Theaterkunst als die Kunst beschreiben: Dazu braucht es Künstlerinnen wie Rénevier

Womöglich sind das zu viele Beispiele, die Rede wird da ein bisschen zum Selbstlob eines Theaterleiters, wie relevant das eigene Programm doch sei, aber es ist ja klar, um was es geht: Lux will die Theaterkunst als die Kunst beschreiben, die „Empathie herstellt“, und dazu benötigt es Künstlerinnen wie Rénevier.

Der Ort, an dem Rénevier arbeitet, ist der Ort, an dem man miteinander redet, an dem man zusammenkommt, „Zusammenkunst“ nennt Lux das. Weil die Schauspielerin Themen verhandelt, die die Stadtgesellschaft betreffen. Ein schöner Gedanke, der vielleicht noch ein bisschen schärfer wäre, wenn Lux den Satz „Hier wird deine Sache verhandelt“ nicht auf Latein wiederholen würde, „hic tua res agitur“. Die Stadtgesellschaft spricht selten Latein, aber Rénevier versteht schon, was gemeint ist. Weswegen darauf der Stab an Kultursenator Carsten Brosda weitergereicht wird.

Lothar Dittmer, Vorsitzender des Vorstands der Körber-Stiftung, übergibt den mit 10. 000 Euro dotierten Boy-Gobert-Preis an Pauline Rénevier.
Lothar Dittmer, Vorsitzender des Vorstands der Körber-Stiftung, übergibt den mit 10. 000 Euro dotierten Boy-Gobert-Preis an Pauline Rénevier. © DPA Images | Markus Scholz

Empathie herstellen: Das kann Pauline Rénevier besonders gut

Der zwar ebenfalls ernst, dabei aber konsequent Optimist bleibt. „Politik ist das Machbare, Kunst das Unmögliche“, zitiert er den Dramatiker Heiner Müller, „Kunst kann nur auf die Politik wirken, wenn sie die Politik stört.“ Was einer jungen Schauspielerin erstens einen Freibrief zum Über-die-Stränge-Schlagen gibt, gleichzeitig aber auch eine Hoffnung bereithält: „Die Welt ist anders denkbar, spielbar, machbar, als wir es uns vorstellen“, gibt Brosda Rénevier mit auf den Weg.

Den Abschluss dieser politischen Preisverleihung übernimmt Schauspieler Burghart Klaußner in seiner Funktion als Vorsitzender der Preisjury. Da den Künsten immer wieder der Vorwurf gemacht werde, sich angesichts des Hamas-Terrors nicht eindeutig zu positionieren, stellt Klaußner klar: „Der wiederaufkommende Antisemitismus ist unerträglich!“. Und dann schlägt er den Bogen zur Preisträgerin:

Um gegen Antisemitismus vorzugehen, benötige man nicht nur Informationen und Geschichtsunterricht, sondern auch Empathie und Einfühlung. Man erinnert sich an Lux: Empathie herstellen, das kann das Theater. Und das kann jemand wie Pauline Rénevier besonders gut, indem sie, so die Jurybegründung „eine beeindruckende Präsenz (zeigt), die eine Dringlichkeit des inneren Ernstes ebenso beweist wie eine überschäumende Spielfreude in der Improvisationskunst.“

Schauspielerin holt den Mond, also die Discokugel, vom Theaterhimmel

Diese „überschäumende Spielfreude“ folgt im Anschluss. Das Zentrum der Preisverleihung bilden traditionell nicht die Reden, das bildet eine von der Preisträgerin selbst gestaltete Performance, in Réneviers To-do-Liste Punkt drei, „Den Mond holen“. Das heißt, dass die Schauspielerin tatsächlich den Mond vom Himmel holt (na ja: die riesige Discokugel, die Stéphane Laimés Bühne zu „King Lear“ prägt), dann eine Szene anspielen lässt, nur um sie daraufhin noch einmal rückwärts laufen zu lassen. Und weil das so gut funktioniert: einfach weiter rückwärts.

Die Weltgeschichte geht fortan in die Gegenrichtung: Die Terroristen ziehen sich aus Israel zurück, die russische Armee gibt die besetzten Gebiete der Ukraine frei, die AfD löst sich auf. Bankenkrise, 11. September, Ozonloch: wird alles rückgängig gemacht, bis zum Jahr 1998, dem Jahr von Réneviers Geburt. Theater als utopische Aktion – genauso hatte sich Brosda das wahrscheinlich vorgestellt, mit der Welt, die anders spielbar ist.

Die Schauspielerin Pauline Rénevier spielt in einer Performance während der Preisverleihung ihre eigene Biografie auf der Bühne des Thalia Theaters.
Die Schauspielerin Pauline Rénevier spielt in einer Performance während der Preisverleihung ihre eigene Biografie auf der Bühne des Thalia Theaters. © DPA Images | Markus Scholz

Sympathisch auch: dass am Ende nicht nur die Preisträgerin 10.000 Euro reicher ist, sondern, dass die Einnahmen der Preisverleihung laut Aussage des Körber-Stiftung-Vorsitzenden Lothar Dittmer an die Initiative „Der spendierte Platz“ gehen, die Jugendlichen, die sich die Tickets nicht leisten können, den Theaterbesuch ermöglicht. Schön.

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Schließlich noch der Schlusspunkt von Réneviers Liste: „Weltrekord brechen“. Die Schauspielerin peilt den Weltrekord im Crowdsurfing an, will in unter 45 Sekunden durchs Thalia-Publikum getragen werden. Am Ende klappt es in 41 Sekunden, der Rekord ist gebrochen. Und was kann da eigentlich noch kommen?