Hamburg. Michael Thalheimer inszeniert das Fragment am Thalia Theater mit starkem Ensemble: als schillernd-kaltes und forderndes Spiel.

Der Regisseur Michael Thalheimer gilt eigentlich als Stücke-Kondensator, einer, der Stoffe –meist aus dem klassischen Kanon – zu einer Essenz einkocht und damit den Kern freilegt. Umso erstaunlicher, dass er sich in seiner neuen Regiearbeit „Der Prozess“ (1914/15) von Franz Kafka im Thalia Theater offenbar zum Puristen der Werktreue gewandelt hat. Als wie üblich düsteren Sezierer der Moderne erweist er sich weiterhin. Thalheimer ist einer, der um seine Mittel sehr genau weiß.

Schon die psychedelisch wabernden Farb-Videos, die Rasmus Rienecker über Henrik Ahrs, mit kalten Wänden und hohen Türbögen ausgestattete, mühlenartige Drehbühne flimmern lässt, deuten die Traumhaftigkeit des Geschehens an. Bert Wredes schwüle Electro-Pop-Tonspur trägt ihren Teil dazu bei.

Thalia Theater: Kafkas „Der Prozess“ – düsterer Albtraum, dicht am Stoff

Hüllenlos wird der von Merlin Sandmeyer gespielte Josef K. eines Morgens von zwei Wärtern aus dem imaginären Bett gezerrt. Doch eine konkrete Anklage wird er nie erfahren. Und auch nicht in einem Prozess einem Richter gegenübertreten. Er gerät nur immer tiefer in das unaufhaltsam mahlende System des Gerichts mit seinen absurden bürokratischen Prozessen und einem zutiefst bösartigen, mitunter auch albern kichernden, närrischen Personal.

Überraschenderweise wird er zunächst nicht eingesperrt, sondern soll seiner Arbeit als Prokurist einer Bank weiter nachgehen. Und Sandmeyers Josef K. äußert selbst, dass er die Sache vielleicht etwas zu sehr auf die leichte Schulter nehme.

Thalia: Merlin Sandmeyer gibt die Hauptperson Josef K. irrlichternd verwirrt

Statt sich um seinen Fall zu kümmern, sucht er lieber seine Gespielinnen auf, die ihm nachstellende Vermieterin Frau Grubach (Christiane von Poelnitz) würde gern seinen Kopf unter ihre Armbeuge klemmen. Aber er möchte nur wissen, wo sich das von ihm begehrte Fräulein Bürstner aufhält. Pauline Rénevier gelingt es, aus der Begegnung mit kühler Sinnlichkeit Funken der Lebendigkeit zu schlagen. Meist sind die weiblichen Protagonisten aber mehr oder weniger zu Projektionsflächen erotischer Abenteuer verdammt. Marina Galic glänzt am Ende als Geistlicher in einer eindringlichen Szene, in der sie die zentrale Parabel „Vor dem Gesetz“ erzählt. Die Geschichte über einen Türhüter liefert K. eigentlich den letzten Beweis der absoluten Willkür und der Unausweichlichkeit des Geschehens.

Bis zu dieser Erkenntnis muss sich der von Sandmeyer irrlichternd verwirrt gegebene Josef K. von Verhör zu Verhör, von Raum zu Raum quälen. Ein Onkel (etwas überambitioniert: Stefan Stern) will helfen. Und versucht, einen Advokaten zu organisieren. Christiane von Poelnitz hat als Anwalt ebenfalls einen so beeindruckenden wie verstörenden Monolog, in dem sie sich mit immer schneller drehenden Worten in den juristischen Irrsinn hineinfräst. Der Irrsinn gipfelt in einen Kontakt Nase an Nase mit einem Untersuchungsrichter, von Falk Rockstroh mit eisiger Grausamkeit gegeben. Und ja, Josef K. macht mit seinem mal aufbegehrenden, mal unterwürfigen Verhalten alles noch schlimmer.

Quälende Vorgänge auf der Bühne – für das Publikum nicht eben unanstrengend

Michael Thalheimer inszeniert hier seinen ersten Kafka, dessen Todestag sich 2024 zum 100. Mal jährt. Aber so richtig ist ihm dazu keine eigene Fantasie eingefallen. Weshalb das Romanfragment in einer Fassung von Emilia Heinrich und Michael Thalheimer eben auch sehr linear und ohne große Brüche nacherzählt wird. Dadurch werden die an sich schon quälenden Vorgänge auf der Bühne für das Publikum nicht eben unanstrengend.

Gewiss, es ist alles sehr kunstvoll durchstilisiert und -ästhetisiert. Jede Figur verfügt über ein eigenes Bewegungsrepertoire – und eigene Ticks. Die von Michaela Barth entworfenen, farbenfrohen Kostüme versprühen zeitlosen Glamour. Die Figuren tragen einander, umschlingen einander, ziehen sich gegenseitig über den Boden – mittendrin der immer mehr in sich zusammenfallende, sich krümmende oder an einer glatten Wand hinabgleitende Merlin Sandmeyer als Josef K.

Thalia Theater: Der „Prozess“ – letztlich kein lebendiger Theatertext

Es herrscht ein insgesamt hoher künstlicher Ton, aber dank des akkurat und expressiv aufspielenden Ensembles kommt es zu wahrhaftigen, sehr körperbetonten Begegnungen, auch wenn sie mit oft sehnsuchtsvoll ausgestreckten Armen meist Ausdruck von Verzweiflung sind. Ein lebendiger Theatertext aber ist „Der Prozess“ letztlich nicht.

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Irgendwann dämmert es Josef K., dass er sich einer unbekannten Macht gegenübersieht, die die Fäden zieht. Schuld oder Unschuld spielen keine Rolle. Am Ende wartet der Tod durch Ersticken. Das System folgt bei Kafka im Grunde keiner Willkür, sondern einer inneren Logik. Das Außen führt zum Verlust des Inneren. Das Individuum verliert den Bezug zu sich selbst und geht in der modernen Massengesellschaft unter. Marina Galics Geistlicher bringt es auf den Punkt: „Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst“. Anschlüsse an Zustände totalitär regierter Staaten der Gegenwart wären dennoch möglich gewesen.

Michael Thalheimer hat sich dagegen entschieden. Und so bleibt es ein schillernd kaltes, häufig farbenfrohes Spiel, das im Grunde um einen Kern der Leere kreist.

„Der Prozess“ weitere Vorstellungen Di 21.11., 20 Uhr, MI 22.11., 20 Uhr, und 7.1., 19 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 040/32 81 44 44; www.thalia-theater.de