Hamburg. Jon Fosse beendet sein siebenteiliges Großwerk. Es geht um Verluste, Liebe, existenzielle Erfahrungen – und Licht, das triumphiert.

Es war ein erfolgreiches Jahr für den in Hamburg beheimateten Großverlag Rowohlt. Der Österreicher Tonio Schachinger bekam für seinen gut gereiften Pubertäts-, Gamer- und Schulroman „Echtzeitalter“ den Deutschen Buchpreis zuerkannt. Er war sein erster Titel bei Rowohlt. Und der Norweger Jon Fosse, dessen deutsche Übersetzungen schon sehr lange bei Rowohlt erscheinen, erhielt ebenfalls eine nicht ganz kleine Auszeichnung. Den Nobelpreis. Für sein dramatisches und episches Werk. Ein Rowohlt-Doppelschlag im Herbst: Es ist im letzten Quartal ein Superjahr geworden für das Haus an der Kirchenallee.

Anzunehmen, dass der Theaterautor Fosse sehr gut weiß, wo sein deutscher Verlag liegt: gegenüber einer der renommiertesten Bühnen des Landes, dem Schauspielhaus. Wird er dort mal gespielt werden in naher Zukunft? Die dramatischen Qualitäten des Prosatexts „Ein Leuchten“ (78 S., 22 Euro), der jetzt auf Deutsch erscheint, sind offensichtlich. Er taugt als Monolog über den letzten Weg, den wir gehen, den Schritt ins Jenseits. In seiner existenziellen, symbolgesättigten Dichte ist das Buch verwandt mit dem anderen Titel, der zeitgleich auf den Markt kommt: der letzten Lieferung des Maler-Asle-Zyklus, „Ein neuer Name“.

Neue Bücher – Nobelpreisträger Jon Fosse: Am Ende hilft nur die Religion

„Ein Leuchten“ ist ein 70-Seiten-Stück über einen Mann, der aus Langeweile ins Auto steigt und in den Wald fährt. Er hat den totalen Zufallsweg gewählt, bis er hierherkam, mal rechtsherum, mal linksherum. Dann bleibt er stecken. Eine Metapher für den biografischen Stillstand: „Ja, jetzt stehe ich hier, sitze ich hier, dachte ich, und ich fühlte mich leer, als ob die Langeweile zu Leere geworden wäre. Oder eher zu Beklemmung, denn ich fühlte eine Angst in mir, wie ich dasaß und vor mich hin schaute, leer, wie in einem Nichts drin. Innen in einem Nichts drin. Was ist denn das für eine Redensart, dachte ich. Da vor mir ist der Wald, nur der Wald, dachte ich. Da hatte also diese spontane Autofahrt mich in den Wald gebracht.“

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Fosses bekanntestes Werk heißt „Melancholie“, und wenn es eine Literatur gibt, die die derzeit allenthalben zu spürende miese Laune gut widerspiegelt, ist es die dieses großen norwegischen Erzählers. Wobei Fosses Trübsinn eine tiefe Liebe zum Leben verrät. Dennoch ist es ein düsterer, weltabgewandter Status, in dem sich die Hauptfigur befindet. Der Text lässt einige Deutungen zu. Er kann zum Beispiel als halluzinogener Spaziergang – es treten seltsame Wesen auf, zum Beispiel Vater und Mutter – gelesen werden, aber auch als der Sterbevorgang des Erzählers. Alles ist dunkel, aber es gibt Licht: Das „Leuchten“ muss nicht zwangsläufig von Gott ausgehen. Aber religiöse Motive sind in den Texten des konvertierten Katholiken Fosse wichtige Bausteine.

Jon Fosses Roman „Ein neuer Name“: Abschluss eines großen Zyklus‘

Und man nimmt diese optimistische Spur im Werk Fosses so oder so gierig auf. Das ist auch in der Heptalogie so, dem siebenteiligen, dreibändigen und mehr als 1100 Seiten langen Höhepunkt in Fosses Schaffen, das nun zu Ende geht. Auf Deutsch erscheint nach „Der andere Name“ und „Ich ist ein anderer“ endlich „Ein neuer Name“, der Abschluss des fesselnden Asle-Komplexes. Das letzte Projekt des Malers Asle, mit dem wir Lesenden durch die kalte, nicht unromantische, aber harte Winterwelt kurz vor Weihnachten gehen, ist das auf Papier gebrachte Andreaskreuz, ein christliches Symbol. Asle beschließt in den letzten Teilen der Heptalogie, dass er nie wieder malen will. Er hat alles gesagt, was er sagen wollte.

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Es sind nur ein paar Tage, die sich in den drei Büchern auf so vielen Seiten ausbreiten. Tage, in denen der Witwer Asle an die Liebesgeschichte mit der zu früh gestorbenen Ehefrau Ales zurückdenkt, an sein Herkommen, die tote Schwester. Das Studium. Die Karriere.

An Heiligabend ist er, der unbeirrbare, nach außen verschlossene Cordjackenträger, mit dem Nachbarn Asleik verabredet. Man will die Schwester Asleiks besuchen. Beziehungsweise ist das so ausgemacht. Aber Asle hat keine rechte Lust; seine Gedanken kreisen um die großen Fragen des Lebens. Die größte von ihnen lautet: Ist dieses Leben all die Anstrengungen wert, angesichts der Verluste, die wir fortwährend zu ertragen gezwungen sind?

Jon Fosse bekam 2023 den Literaturnobelpreis.
Jon Fosse bekam 2023 den Literaturnobelpreis. © picture alliance / TT NYHETSBYRÅN | Fredrik Sandberg/TT

Die sieben Teile der Erzählung sind virtuos miteinander verknüpft, sie verweisen aufeinander; der dritte Band (wieder elegant übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel) nimmt Erzählfäden der anderen beiden auf. Man hätte das Werk aber vermutlich auch als einen Roman veröffentlichen können. Es ist die Meisterschaft Jon Fosses, dass er von Asle und auch seinem namensgleichen Freund, der in diesen Abschlussteilen weiterhin im Koma liegt, im Modus der Wiederholung erzählen kann, ohne dass dies je langweilte. Im Gegenteil, die Themen Gott, Kunst, Tod, Leben, Vergänglichkeit, Zufälligkeit erhalten durch die narrative Engführung ihre existenzielle Wucht.

Jon Fosses neuer Roman: Der Blick geht über den Fjord

Viele Personen in dieser Erzählung haben einen Doppelgänger, andere Versionen ihrer selbst. In einigen Momenten wirkt auch der neue Roman surreal, manchmal fast wie „Zurück in die Zukunft“, freilich ohne den Witz jenes Hollywood-Klassikers. Wenn Asle, dessen Blick über den Fjord geht, in seinen jungen Jahren versinkt, werden die Zeitebenen eins. Als Leser ist man dicht am jungen Asle, und man erkennt, dass der andere Asle, der im Delirium tremens, tatsächlich die nicht unwahrscheinlichere Biografie gelebt hat, in die auch Asle 1 hätte geraten können. Bittersüß sind Momente wie die, in denen Asle in einem jungen Liebespaar seiner selbst begegnet. Asle kennt das Leuchten in der Vergangenheit so gut wie in der Gegenwart.

Fosse lesen heißt, in einfachen, aber tiefgründigen Sätzen zu sein, die in langen Schwüngen immer wieder von Neuem beginnen, das Leben auszumessen. Angesichts der beiden neuen Bücher, deren Verbindungen klar erkennbar sind im Dunkel ihrer Themen, darf man festhalten: Jon Fosse ist die beste Entscheidung der Nobelpreis-Jury seit vielen Jahren.

Das Buchcover Jon Fosses Roman „Ein neuer Name“, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, 303 S., 30 Euro.
Das Buchcover Jon Fosses Roman „Ein neuer Name“, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, 303 S., 30 Euro. © Rowohlt | Rowohlt