Stockholm/Hamburg. Höchste literarische Ehrung für den großen skandinavischen Romancier und Dramatiker Jon Fosse. Einer seiner Schüler ist berühmt.

Die gute Nachricht für Buchhandlungen: Der neue Literaturnobelpreisträger Jon Fosse ist nicht allein Star-Dramatiker. Er hat nicht nur Theaterstücke geschrieben, sondern auch Prosa. Und Prosa ist bekanntlich das, was sich in Buchhandlungen verkaufen lässt. Aber auch sonst ist die Kür des 64-jährigen Norwegers unbedingt zu begrüßen. Fosse hat einen Erzählstil, dem man eine große Wiedererkennbarkeit attestieren darf. Er ist in seiner Kargheit wohl typisch skandinavisch zu nennen.

Wobei Fosse ganz anders schreibt als sein ehemaliger Schüler Karl Ove Knausgård. Fosse ist Minimalist, Knausgård („Min kamp“) Maximalist. Fosse drängt den Ozean menschlichen Empfindens in den schmalen Strom rhythmischer Wortfolgen. Diese Prosa entfaltet einen gewaltigen Sog; das geschieht auf ganz andere Weise als beim minutiösen Wirklichkeitserkunder Knausgård. Fosse und sein jüngerer Landsmann Knausgård waren zuletzt immer wieder für den Literaturnobelpreis ins Spiel gebracht worden. Und zumindest Fosse hat tatsächlich seit langem als Favorit für die wichtigste Literatur-Auszeichnung der Welt gegolten.

Literaturnobelpreis für Jon Fosse: „Dem Unsagbaren eine Stimme geben“

Wie die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm mitteilte, erhalte Fosse die Auszeichnung „für seine innovativen Theaterstücke und Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme geben“. Der mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (etwa 920.000 Euro) dotierte Literaturnobelpreis wird in einer Gala am 10. Dezember in Stockholm übergeben, dem Todestag Alfred Nobels.

In der Theaterstadt Hamburg ist Fosse bislang nicht so oft gespielt worden. Was einen durchaus schon immer verwundern konnte. Im Lichthof Theater wurde 2013 „Besuch“ gegeben, Kampnagel hatte 2011 ein Londoner Fosse-Gastspiel von Altmeister Patrice Chéreau auf der Bühne und 2010 nach Jon Fosses Stück „Tod in Theben“ Angela Richters Inszenierung von „Der Ödipus Antigone Komplex“. Eine Inszenierung von „Lila“ gab es 2005 am Schauspielhaus – aber „nur“ im Malersaal. „Das Kind“ gab es, immerhin als deutschsprachige Erstaufführung, im Jahr 2000 im Thalia in der Gaußstraße zu sehen.

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„Bei Fosse geht es nicht so sehr um das, was gesagt wird, sondern um das, was nicht gesagt wird und das, was zwischen den Zeilen hörbar ist“, hat der flämische Regisseur und ehemalige Thalia-Oberspielleiter Luc Perceval einmal gesagt. Er inszenierte einige von Fosses Stücken. Noch mal Perceval: „Was ich sehr liebe in seinen Texten, ist: Alles ist scheinbar banal. Scheinbar. Wenn man aber zweimal zuguckt, entdeckt man eine sehr große Dimension dahinter.“

Und auch, wenn die letzte Fosse-Inszenierung an seinem Haus schon eine Weile zurückliegt, ist Thalia-Intendant Joachim Lux als Mann des Theaters natürlich begeistert über die Stockholmer Entscheidung: „Großartig, dass mit Jon Fosse einer der wenigen zeitgenössischen Dramatiker den Nobelpreis bekommt! Kaum jemand beherrscht es wie er, mit absolutem Sprachminimalismus die Mikrokosmen der menschlichen Existenz zu erforschen. Seine Texte sind wie musikalische Partituren, denen man sich als Regisseur, aber auch als Schauspieler vollkommen hingeben muss.“ Fosse sei ein „literarischer Solitär, ein eigensinniger, mehr an dem Innen der Welt als dem (gesellschaftspolitischen) Außen der Welt interessiert“, so Lux. „Er ist einer der ganz Großen.“

Schriftsteller Jon Fosse: Knausgård war einst sein Schüler

Das trifft sowohl auf die Stücke als auch auf die Romane zu. Jon Fosse, der seit längerem in Oslo und in Österreich lebt, wurde 1959 in der Küstenstadt Haugesund geboren. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und lehrte später in Bergen Schreiben – im fünften Band („Träumen“) von Knausgårds „Min kamp“ tritt er am Rande auf. 1983 erschien Fosses erster Roman „Rot, schwarz“. Mit seinem Künstlerroman „Melancholie“ wurde er Mitte der 1990er-Jahre auch dem deutschsprachigen Publikum bekannt.

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Gute Laune machen seine Stoffe nicht: Es sind die Regungen der Seele, die Fosse in den Blick nimmt, die Regungen von Menschen, die in Menscheneinsamkeit der Gesellschaft aus dem Weg gehen. Fosses Helden bleiben in Abstand zur Welt. Man stellt sich Fosse als Betrachter der Fjorde vor, an denen er aufwuchs. Sie liegen unter dunklen Himmeln, massiv und unverrückbar – mit biblischer Schwere. Seelenlandschaften, größer als man selbst.

In das gegenwärtig düstere Zeitalter passen die Stoffe dieses großen Norwegers. Als Einstiegslektüre empfiehlt Hamburgs Literaturhauschef Rainer Moritz den schmalen Roman „Morgen und Abend“: „Ich kenne Jon Fosse vor allem als Autor einer Prosa, die die Literatur ernst nimmt und sie nicht vorschnell in den Dienst irgendeiner Sache stellt“, so Moritz, der die Stockholmer Entscheidung schlicht „großartig“ findet. Unbedingt solle man sich auf seinen aktuellen siebenteiligen Romanzyklus einlassen, von dem auf Deutsch bislang die Bände „Der andere Name“ und „Ich ist ein anderer“ vorliegen: „Eine langsame, düstere, an äußerlichen Ereignissen arme Prosa, die in karger norwegischer Landschaft spielt und in ihrer existenziellen Eindringlichkeit nicht zu überbieten ist.“

Die Heptalogie, dargereicht in sieben Teilen und drei Bänden, erscheint auf Deutsch in Fosses Hamburger Stammverlag Rowohlt. Der Abschlussband „Ein neuer Name“ ist für 2024 annonciert. Die Lesenden begleiten in den bisher erschienenen Bänden den Maler Asle durch seinen Alltag, er trauert immer noch um seine lange gestorbene Frau, kümmert sich um seine Kunst, trifft seinen Nachbarn (bedrängender war Smalltalk nie). Und gelegentlich auch den anderen Asle, seinen Doppelgänger. Bei dem eskaliert, was im Original-Asle (wer ist eigentlich das Original in dieser raffinierten Identitäts-Erzählung?) lediglich angelegt ist, Todessehnsucht und der Wunsch nach Selbstzerstörung. Der andere Asle säuft sich ins Krankenhaus. Dabei ist er auch Maler, aber eben eine noch unglücklichere Version von Asle eins. Der Doppelgänger ist die verrutschte Version, das bessere, das anders gelebte Leben des Helden nur Zufall. Asle eins ist dennoch Asle zwei, im Dunkel treffen sie sich.

Nobelpreis für Literatur Jon Fosse folgt auf Annie Ernaux

Was macht diesen Text so suggestiv, den Stoff so existenziell-meditativ? Allein die ruhige, scheinbar so banale Prosa Jon Fosses. Sie ist in 40 Sprachen übersetzt worden, und das ist kein Zufall. Der Fosse-Sound ist unverwechselbar, der Beat stoisch. Einen Fosse-Roman erkennt man nicht zuletzt an seinem Rhythmus. Seine Sätze sind in einer steten Pendelbewegung.

Bereits drei andere Schriftsteller aus Norwegen haben den Literaturnobelpreis erhalten. Nach Bjørnstjerne Bjørnson (1903), Knut Hamsun (1920) und Sigrid Undset (1928) ist der als scheu geltende Jon Fosse der vierte norwegische Literaturnobelpreisträger. Vergangenes Jahr war die Auszeichnung an die französische Schriftstellerin Annie Ernaux gegangen.