Hamburg. Ursina Tossis jüngstes Tanzstück führt auf Kampnagel tief in Bereiche der menschlichen Existenz, die man nur zu oft verdrängt.
„Eine erotische Bejahung von Tod, Dunkelheit und Katastrophe“, darauf lässt man sich doch gern ein. Ursina Tossis jüngstes Tanzstück „Hell. An Erotic Affirmation Of Death, Darkness and Disaster“ auf Kampnagel führt tief in Bereiche der menschlichen Existenz, die man oft verdrängt. Und umarmt sie.
Tossi hat ein Faible für das Dunkle: für grausame Märchen, für Horror, für Schauerliteratur, die sie mit expressiver Körpersprache, Freude am Kreatürlichen und nicht zuletzt hintergründigem Humor für den Tanz adaptiert.
„Hell“ auf Kampnagel – eine höllische Umarmung, auf die man sich einlassen muss
Bei „Hell“ ist all das zurückgenommen, verhältnismäßig still wird das Thema Tod und Verlust umkreist, einen gewalttätigen Ausbruch gibt es nur einmal, und dass dann Kehlen durchgeschnitten werden und Wirbelsäulen gebrochen, ist vor allem eine Reminiszenz an frühere Arbeiten wie „Blue Moon“.
Kurz darauf kehrt der Abend zurück ins Meditative, zum Ritual, in dem sechs Performerinnen ein riesenhaftes Wesen auf Stelzen bei seinem Abstieg in die Hölle begleiten. Wobei es schon beeindruckend aussieht, wenn Tossi tänzerische Tableaus entwirft und das Stelzenwesen derweil über die Bühne stakst, mühselig einerseits, zielstrebig andererseits.
Allerdings hat „Hell“ noch eine weitere Ebene, und die liegt im Text. Audiodeskriptionen sind schon lange präsent in Tossis integrativem Verständnis von Tanz, hier wird das aber weitergeführt: Zwoisy Mears-Clarke beschreibt nicht nur aus dem Off, was parallel zu sehen ist, sondern ist auch auf der Bühne präsent und spricht Texte, die keine Beschreibung sind, sondern das Stück weiterführen, zu Kapitalismus- und Kolonialismuskritik. Was das Stück etwas theorieschwer daherkommen lässt, auch weil man ständig aufpassen muss, ob man gerade die Audiodeskription hört oder doch eine inhaltliche Setzung.
Ursina Tossi: Teilweise wird die Grenze zum Kitsch gestreift
Der Text drängt sich da in den Vordergrund, so weit, dass man fast übersieht, was für starke Bilder Tossi derweil choreografiert, Bilder, in denen die Körper die Kontrolle verlieren, in denen gezittert wird, geschluchzt und gekeucht. Und in denen zwischendurch formvollendetes Poledancing gezeigt wird – „Hell“ begeistert sich auch für die Schönheit von Körperlichkeit.
Und deutet in seiner choreografischen Sprache mehr an, als es im Text beschreibt: Während der nämlich ein ziemlich konventionelles Höllenbild entwirft, mit höhlenartigen Gängen und Ebenen, die man in die Tiefe schreitet, bricht der Tanz diese Vorstellungen immer wieder, mit Körperarrangements, die berührend sind, teilweise schön an der Grenze zum Kitsch.
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Für die Einheit zwischen Text und Tanz ist Dodzi Dougban zuständig. Der seit seiner Kindheit taube Tänzer übersetzt in Gebärdensprache und macht den Text damit zur Performance. Dass man nicht alles versteht, ist dabei zweitrangig – darauf muss man sich eben einlassen, auf diese höllische Umarmung.