Hamburg. Ursina Tossi beweist mit ihrer neuen Produktion „Witches“: Sie ist die derzeit wohl spannendste Hamburger Choreografin.
Eine sanfte Stimme säuselt: „Wenn ich bis zehn gezählt habe, wirst du in der Zukunft sein.“ Die Glieder sind schwer, der Körper sinkt tiefer in den Boden, die Welt um einen herum verändert sich. Nicht zum Guten: Das Wasser wird knapp, die Temperaturen steigen, der Faschismus greift nach der Macht. Zehn.
Mit „Witches“ löst die Hamburger Choreografin Ursina Tossi auf Kampnagel einmal mehr den Theaterraum auf. Es gibt keine Trennung zwischen Bühne und Saal, das Publikum liegt im Raum verteilt, und während man langsam in die Meditations-Apokalypse gleitet, entwickeln sich künstlerische Bilder direkt neben einem, zurückhaltend, langsam, düster: Fünf perfekt aufeinander eingespielte Tänzerinnen zittern zaghaft durch den Raum, ein Heulen hebt an, Krämpfe schütteln die Körper.
Choreografischer Minimalismus von Ursina Tossi
Solch choreografischer Minimalismus ist neu bei Tossi. Ihre spektakuläre (und immens erfolgreiche) Vorgängerarbeit „Blue Moon“ vor einem Jahr überrollte das Kampnagel-Publikum noch mit energetischer Aktion, „Witches“ hingegen nimmt sich die Zeit, kleinste Bewegungsfolgen aus sich heraus zu entwickeln. Was raffiniert ist, weil Tossi so praktisch unmerklich doch noch in den Überwältigungs-Modus schalten kann: Plötzlich werden Johannes Miethkes düstere Drones durch wuchtigen Goth-Elektro ersetzt, plötzlich stürmen die Tänzerinnen zwischen die Zuschauer, plötzlich wird gezüngelt, gebalgt, geschlagen. Und man fragt sich, wie sich das Stück so schnell so radikal ändern konnte.
Meditations-Nachwirkungen vielleicht: Womöglich ist man noch in Trance, der Flow von „Witches“ zieht einen irgendwie mit.
Das Publikum im Hexenverhör: "Hattest du Sex mit dem Teufel?"
Wie eindeutig der Abend die Entwicklung Tossis vom hoffnungsfrohen Talent zur aktuell vielleicht spannendsten Hamburger Choreografin dokumentiert, beweist der dritte Teil. Der Übergang vom Spiel zwischen Mystik, Gewalt und Sexualität hin zur inhaltlichen Konkretion geriet noch bei „Blue Moon“ verhältnismäßig holprig, hier aber gleitet die orgiastische Aktion leichtfüßig in eine Verhörsituation mit dem Publikum.
Eine Zuschauerin wird von der Seite her angegangen. Erst harmlos, Name, Alter, Beziehungsstatus, ein einziges Kichern, Locken, Reizen. Und plötzlich geht es ans Eingemachte: Glaubst du an den Kapitalismus? Hattest du Sex mit dem Teufel? Wer war mit dabei? Ein Hexenverhör! Sowas ist kein Spaß mehr, und es lässt sich auch nicht bequem in die Vergangenheit schieben.
„Witches“ ist ein Stück des Umschlagens: Meditation schlägt um in poetischen Tanz, Tanz in orgiastische Aggression, Aggression in politischen Gegenwartsbezug. Und wie geschickt Tossi dieses Umschlagen zu arrangieren versteht, das zeigt das Können dieser Choreografin. Gerade weil der Abend nie zum bloßen Ausweis choreografischer Fähigkeiten wird, sondern immer auf sich konzentriert bleibt.
„Witches“ wieder am Sa, 28.9., und So, 29.9., 20.30, Kampnagel, Jarrestr. 20, T. 270 94 949