Hamburg. John Neumeier holt die Britin Cathy Marston ins Boot, damit diese mit seiner Kompanie „Jane Eyre“ erarbeitet. Bald ist Premiere.

Der Saal im Ballettzentrum John Neumeier ist gut gefüllt. Gleich mehrere junge Tänzer haben sich eingefunden. Sie bilden die Gruppe der „Dämonen“ in der Deutschlandpremiere von Cathy Marstons Ballett „Jane Eyre“.

Ida Praetorius, die die Titelrolle tanzt, streift ihre Ballettschuhe über und bindet um ihre Trainingshose noch einen längeren Rock. Am Kopfende sitzt Cathy Marston. Die Probe beginnt. Der Pianist spielt ein paar Takte, und Praetorius tanzt eng neben Louis Musin, dreht den Kopf weg, nimmt mit den Armen eine abwehrende Haltung ein, bis Musin kunstvoll über sie hinweggleitet und ins Liegen kommt.

Die Proben zu „Jane Eyre“ finden im Ballettzentrum John Neumeier in Hamburg statt.
Die Proben zu „Jane Eyre“ finden im Ballettzentrum John Neumeier in Hamburg statt. © Kiran West | Kiran West

Cathy Marston macht ruhige Ansagen. Die britische Choreografin, die seit Langem in der Schweiz lebt und in dieser Saison die Direktion und Chefchoreografie des Balletts Zürich übernommen hat, wirkt entspannt, fast fröhlich. Auch im Gespräch, dabei ist sie nur für einen eng getakteten Tag angereist, erst die Endproben wird sie länger begleiten.

Cathy Marston: Überraschend hat sie vor einiger Zeit einen Anruf von John Neumeier erhalten

Überraschend hat sie vor einiger Zeit einen Anruf von John Neumeier erhalten, der ihr in der letzten Saison seiner Intendanz angeboten hat, die Deutschlandpremiere von „Jane Eyre“ mit dem Hamburg Ballett zu erarbeiten. Das ist an sich schon eine kleine Sensation. Wie John Neumeier ist die Tochter eines Lehrerpaares eine Geschichtenerzählerin und bekannt für ihre Adaptionen literarischer Stoffe mit weiblichen Protagonistinnen.

„Ich wuchs mit einer Menge Bücher auf. Wenn ich zurückschaue, war mein Interesse an Tanz schon immer das Geschichtenerzählen.“ Zunächst erforscht sie ein Thema, sucht das Spezifische in den Beziehungen der Figuren und erstellt eine Liste von Wörtern, mit denen sie dann in den Probenraum geht. Für jede Figur entwirft sie ein eigenes Bewegungsvokabular.

„Am Ende bekomme ich davon eine Gänsehaut, was Worte nicht oder nur über viele Buchseiten, Bewegung aber in einem Augenblick vermitteln kann“, sagt sie. Tanz ohne Bedeutung ergibt für sie keinen Sinn. „Wie diese emotionalen Zustände zusammenfinden und eine Erzählung ausmachen, das gibt mir Zufriedenheit.“

Choreografin über „Jane Eyre“: „Es ist eine weibliche Stimme“

Charlotte Brontës „Jane Eyre“, diesem Klassiker der viktorianischen Literatur aus dem 19. Jahrhundert, fühlt sie sich seit Langem verbunden. 2016 kreierte sie die Uraufführung für das Northern Ballet. Inzwischen ist das Ballett auch im Repertoire des American Ballet Theatre und des Joffrey Ballet in den USA. „Auch in einem so reichen Text gibt es Raum für Vorstellungskraft. Es ist eine Ich-Perspektive als direkte Anrede an das Publikum, kein Tagebuch. Und es ist eine weibliche Stimme. In dieser fiktionalen Figur fühle ich die Komplexität meines eigenen Lebens.“

„Es geht nicht darum, dass der Mann die Frau emporhebt, es geht auch um ein Gegengewicht“, sagt die Choreografin Cathy Marston über ihr Ballett.
„Es geht nicht darum, dass der Mann die Frau emporhebt, es geht auch um ein Gegengewicht“, sagt die Choreografin Cathy Marston über ihr Ballett. © Kiran West | © Kiran West

Natürlich ist die Geschichte der Jane Eyre, die als Waise über viele Umwege von bösartigen Verwandten in einen Beruf und am Ende sogar in eine komplizierte Liebe mit ihrem Arbeitgeber Edward Rochester findet, auch die einer Selbstermächtigung. Aber für Marston ist sie noch viel mehr. „Es nur zu reduzieren auf starke Frauen und wie sie durchs Leben kommen, wäre zu einfach. Es geht auch um die Komplexität und Verwirrung, die die Liebe nach sich zieht: Es gilt, die eigene Identität zu bewahren, während man sich auf den anderen ausrichtet.“ Jane Eyre und Rochester seien aus ihrer Sicht Seelenverwandte, die im Gegenüber Reflexionen ihrer eigenen Seelen erkennen, was sie am Ende zu tiefer fühlenden Wesen mache.

Cathy Marston über das Hamburg Ballett: „Für mich fühlt es sich an wie eine künstlerische Heimat“

Cathy Marston ist zufrieden mit dem Probenstart. „Hier sind alle voller Hingabe an den choreografischen Prozess. Das ist eine Kompanie, deren Selbstverständnis darauf beruht, dass sie sich als die Kompanie eines Choreografen empfindet. Auch John Neumeier ist ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler“, sagt Cathy Marston. „Es ist keine Repertoire-Kompanie wie etwa das Royal Ballett, das auch wunderbar ist. Für mich fühlt es sich an wie eine künstlerische Heimat.“

Im Probenprozess arbeite sie eher wie ein Theaterregisseur. Stelle viele Fragen, versuche die Interpretationen der Tänzerinnen und Tänzer herauszuhören. Reichere ihre Fantasie aber auch an, mit einer Mischung aus klassischem Ballett und zeitgenössischem Tanz. Das sieht man auch auf der Probe. Man nimmt eher klassisch gestreckte Beine wahr, Arabesken, Pirouetten, Sprünge oder auch Überkopf-Hebungen, aber eben auch Gewichtsverlagerungen.

„Es geht nicht darum, dass der Mann die Frau emporhebt, es geht auch um ein Gegengewicht. Wenn eine Frau einen Mann trägt – oder beide sich gegenseitig stützen -, erzählt das etwas über diese Frau.“ Vieles spielt sich auch am Boden ab. „Meist versuchen die Ballett-Tänzerinnen und -Tänzer der Schwerkraft des Bodens zu widerstehen. Bei mir ergeben sie sich ihm häufiger“, sagt Cathy Marston und lacht.

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Der Weg, der sie bis hierher geführt hat, war ein längerer. Als junge Frau wollte sie Schauspielerin werden. In der Nähe ihres Wohnortes gab es aber keine Drama-Schule. Also lernte sie Steptanz, Ballett und Zeitgenössischen Tanz. Ihre Eltern schickten sie auf eine Ballettschule. Von da an ging es stetig weiter. „Es war leicht und schwer“, sagt sie offen. „Es ging langsam, aber beständig voran. Ich habe nicht die Feuerwerk-Karriere hingelegt, wie meine männlichen Kollegen. Manchmal war ich frustriert, aber ich bin sehr widerstandsfähig.“

Die britische Choreografin Cathy Marston: „Manchmal war ich frustriert, aber ich bin sehr widerstandsfähig.“
Die britische Choreografin Cathy Marston: „Manchmal war ich frustriert, aber ich bin sehr widerstandsfähig.“ © Kiran West | © Kiran West

An der Royal Ballett School gab es zwei Lehrer, die erkannten, dass weibliche Stimmen im Tanz fehlen und die sie ermutigten. Seit ungefähr zehn Jahren gebe es eine Entwicklung zu mehr Öffnung hinsichtlich weiblicher Choreografen, so empfindet Cathy Marston es. Kann sie sich vorstellen, auch mal einen Klassiker wie „Schwanensee“ zu choreografieren? „Warum nicht? Auf meine Art. Ich kreiere gern Ballette über Figuren, die man glaubt zu kennen, an denen man aber neue Seiten entdecken kann.“

Hamburg kann ab dem 3. Dezember den unbekannten Seiten der „Jane Eyre“ auf die Spur kommen.

Deutschlandpremiere „Jane Eyre“ So 3.12., 18 Uhr, Staatsoper, weitere Termine und Karten unter T. 30 68 68;www.hamburgballett.de