Hamburg. Der berühmte Stoff, auch dank einer glänzenden Solistin dicht und heutig aufbereitet: Es gibt viel zu sehen, und es ist beklemmend.
„Ver – gesst – mich – nicht!“, flüstert die Mädchenstimme aus dem Off. Und dann: Stille. Ein effektvolles Schlusswort. Aber das wäre vielleicht gar nicht mehr nötig gewesen. Denn die Botschaft der Aufführung war da schon längst angekommen. Und Anne Frank ist ja unvergessen. Mit ihrem von 1942 bis 1944 entstandenen Tagebuch – in 70 Sprachen übersetzt – hat sich die junge Frau ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben.
Jetzt ist die Erinnerung an sie wieder ein Stück lebendiger geworden. Dank der neuen Staatsopern-Produktion von Grigori Frids Monodrama „Das Tagebuch der Anne Frank“, in der Opera stabile. Regisseur David Bösch fokussiert seinen Blick, wie das Stück selbst, ganz auf die Gefühle und die Gedankenwelt der Hauptfigur.
Staatsoper Hamburg: Eine Reise in die Gedankenwelt der Anne Frank
Als Bild dafür haben die Ausstatter Patrick Bannwart und Falko Herold die Rückwand der Bühne und den Boden mit riesigen Faksimiles aus dem Tagebuch tapeziert. An der Handschrift lässt sich der Wandel der Anne Frank vom Mädchen zur Früherwachsenen ablesen. Ein Wandel, den die phänomenale Sopranistin Olivia Warburton im Laufe des Ein-Personen-Stücks auch in der Körpersprache nachzeichnet.
Frids Kammeroper verdichtet Tagebucheinträge aus zwei Jahren zu einer knapp einstündigen Szenenfolge. Sie beginnt am 13. Geburtstag von Anne Frank, zu dem sie ein Poesiealbum geschenkt bekommt. Olivia Warburton – mit schwarz gelockter Perücke als Anne-Frank-Lookalike inszeniert – hüpft in kindlichem Überschwang. Ein Buch, jippie! Das ist ihre Welt. Es wird zu ihrem engsten Vertrauten.
„Anne Frank“: Eine Kammeroper, die das berühmte Tagebuch verdichtet
Anne erfindet eine beste Freundin, Kitty. Ihr erzählt sie davon, was sie beobachtet und bewegt. Eindrücke aus der Schule sind dabei, witzig und unbeschwert. Aber auch immer mehr ernste und schwere Gedanken. Aus der Zeit, als sich Anne Frank mit ihrer Familie im Amsterdamer Exil in einem Hinterhaus verstecken muss, weil auch das Leben jüdischer Auswanderer in den Niederlanden längst bedroht ist. Am 20. Juni 1942 schreibt sie: „Juden müssen einen Judenstern tragen. Juden müssen ihre Fahrräder abliefern. Juden dürfen nicht in die Tram.“
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Der jüdisch-russische Komponist Grigori Frid vertont die Tagebucheinträge in einem Mix aus Parlando-Passagen und ariosen Momenten. Seine Kammeroper aus dem Jahr 1968, deren Klangsprache mitunter an die Zeitgenossen Schostakowitsch und Weinberg erinnert, gründelt oft in dunklen Tönen. Aber hier und da durchstößt Frid den Schleier des Unheils, der auf der Partitur liegt. Etwa wenn Anne erträumt, wie draußen der Frühling erwacht – und die Flöte ein bisschen Sonne bringt.
Neun Instrumentalisten umfasst das Kammerensemble des Philharmonischen Staatsorchesters, das Volker Krafft souverän und sicher leitet. Sensibel tupft er die Hoffnungsfarben von Glockenspiel und Geige, leuchtet aber auch die Seelenschwärze aus. Gerade mit dem finsteren Raunen des Fagotts.
„Das Tagebuch der Anne Frank“: Das Schlagzeug wummert Marschfetzen
In engem Kontakt mit Olivia Warburton durchleben Krafft und das Ensemble die emotionalen Ausnahmezustände, die sich zum Ende hin zuspitzen. Als Anne Frank im Radio von Niederlagen der Wehrmacht hört, überdreht sie ihre Freude in einem hysterischen Tanz. Aber der Absturz kommt schnell. Besonders eindringlich: Ein Gebet, an dessen Ende Anne um Hilfe ruft. Gott!! Gott!! Gott!! Olivia Warburton schreit da fast. Sie führt ihren Sopran in Extreme. Singt zart, verletzlich und keck, kraftvoll und sehnsuchtssüß – und manchmal richtig schrill. Dramatischer Höhepunkt ist Annes Panik, als die Gestapo die Treppe rauftrampelt und fast das Versteck entdeckt. Das Schlagzeug wummert Marschfetzen, an der Rückwand der Bühne flimmern Hakenkreuzsymbole.
Regisseur David Bösch und sein Team machen diese Wand zur Projektionsfläche für animierte Fotos und Zeichnungen, sie inszenieren das Stück als Graphic Opera und bestärken damit seine beklemmende Wirkung. Nazi-Truppen mit Hitlergruß ziehen vorbei; das Auge eines Denunzianten verformt sich übergroß.
Ja, es gibt viel zu sehen. Auch auf den Seiten eines Pop-up-Buchs, mit dem Olivia Warburton alias Anne Frank verschiedene Kapitel ihrer Geschichte aufschlägt. Wie sie sich da in eine zu kleine Tür des Buchs hineinkrümmt, deutet die Enge des Verstecktendaseins an.
Mit ihrer bilderreichen, stellenweise fast eine Spur überladenen Sprache will die Produktion auch und gerade ein junges Publikum erreichen. Das funktioniert in der Premiere. Sie macht Anne Frank von einer historischen Figur zur nahbaren Person. Nicht zuletzt mit der Mädchenstimme aus dem Off (Jonna Plate), die der Regisseur ergänzt hat. Durch diese zusätzlichen, leicht verständlichen Auszüge aus dem Tagebuch lernen wir Anne Frank noch besser kennen.
Und zwar zusammen mit Olivia Warburton, die am Ende die Perücke abnimmt, aus der Rolle heraustritt und als Teil des Publikums die an die Wand projizierten Zitate von Anne Frank auf sich wirken lässt. Wichtig, die zu lesen. Für uns alle. Gerade jetzt. Nein, wir werden sie nicht vergessen.