Hamburg. Schicke LP- und CD-Boxen! „75 Songs (1974–2023)“ heißt die Werkschau des Ex-Hamburgers. Oldies für die Ewigkeit? Das ist die Frage.
Marius Müller-Westernhagen wird am 6. Dezember 75 Jahre alt. Er ist immer noch ein dünner Hering. Ganz wie Sting übrigens, dessen Fitness die Hamburgerinnen und Hamburger gerade bewundern durften. Westernhagen ist im kommenden Jahr in der Barclays Arena zu Gast. Am 17. Mai. Die 2024 insgesamt 17 Termine umfassende Tour des Rockmusikers, der für ein, zwei Sommer der Allergrößte seines Fachs in Deutschland war, ist eine Art Comeback. Sein bislang letztes Album „Das eine Leben“ erschien zwar erst 2022, auf Tour war er, auch Pandemie-bedingt, aber schon länger nicht mehr.
Der große Westernhagen-Aufschlag wird zelebriert: An diesem Freitag erscheint die opulente Retrospektive „Westernhagen 75“ mit, genau, 75 Songs aus dem Gesamtwerk digital, auf CD und auf Vinyl. Was uns zu der Feststellung bringt: Den haben wir ganz schön lange nicht gehört. Warum eigentlich? Sind seine Songs schlecht gealtert? Passen sie nicht mehr in die Zeit? Oder gerade doch? Spotify anschmeißen, den CD-Spieler bemühen, anders ging‘s nicht. Winter 2023, Willkommen bei Westernhagen.
Marius Müller-Westernhagen: Gesamtwerk mit 75 – „Dicke“ war immer ein kontroverser Song
Behaupte bitte niemand, vor 45 Jahren sei wirklich alles komplett anders, zum Beispiel ein Song wie „Dicke“ Normalität gewesen. Es war nicht so: Auch damals empfand man den Text als diskriminierend. Aber Kritik und Aktivismus, der breitflächig mit Begriffen wie Body- und Fat-Shaming hantierte, lagen in einer noch fernen Zukunft.
Westernhagen, der das Lied seit 2005 nicht mehr live spielt, verteidigte schon früh seine verbale Gemeinheit als Satire und Gesellschaftskritik. Wer‘s glaubt! „Dicke haben schrecklich dicke Beine/Dicke ham‘n Doppelkinn/Dicke schwitzen wie die Schweine/Stopfen, fressen in sich ‘rin“ – da war schon viel Makroaggressivität dabei. Der junge Westernhagen drehte völlig frei. Und man weiß selbst genau, dass man den Song mit 17 viel besser und wer weiß, komischer? fand als mit 37.
Marius Müller-Westernhagen provozierte gerne – auch mit seinem Suffsong „Johnny W.“
Der frühe Westernhagen war provokant, das machte seinen Reiz aus. Natürlich waren die Barrieren bürgerlicher Spießigkeit Ende der 70er-Jahre längst gefallen, auch dank der angloamerikanischen Popkultur. Alkohol und Drogen waren Bestandteil des Rock‘n‘Roll.
Dennoch war mit einem Suffsong wie „Johnny Walker“, den Westernhagen im „Pfefferminz Experiment“ vor ein paar Jahren wie alle anderen der frühen Erfolgsplatte neu einspielte, noch etwas zu holen. Im Zweifel anti-bourgeoiser Hedonismus-Lifestyle. Oder einfach die Legitimiation zum Frusttrinken. Thin Lizzy („Whiskey In the Jar“) und die Eagles („Tequila Sunrise“) hatten in den Siebzigern bereits Promille-Pop abgeliefert, Westernhagen präsentierte nun die deutsche Version. Als Countrysong ist er tatsächlich zeitlos zu nennen.
„Mit 18“ von „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ – Westernhagens wohl bestes Album
Wenn man im Berliner Nobelfresstempel Borchardt sitzt, Schnitzel für 32 Euro einfährt und das Glas mit eingeschmuggeltem Johnny W. schwenkt, will man wohl zurück auf die Straße und „wieder singen, nicht schön, sondern geil und laut“. Marius lebte 1978 in Hamburg, als er das Lied „Mit 18“ in München aufnahm und über Düsseldorf sang. Das später abgeholte Image vom „Armani-Rocker“ war da noch in weiter Ferne, man kratzte das letzte Dope zusammen und futterte beim Hühner-Hugo und nicht im Borchardt, das beim Abendblatt-Interview mit Marius 2015 von Polizei und Staatsschutz abgesperrt wurde, weil Vize-Kanzler Sigmar Gabriel dort zu speisen gedachte.
„Rock ist tot? Totaler Schwachsinn“, sagte Marius damals frisch geerdet nach einer Clubtour, die ihn auch in die Große Freiheit 36 führte. „Es war notwendig“, bekannte er. Und es war geil und laut, und der Sound war... knusprig. „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ ist jedenfalls Westernhagens bestes Album geblieben, und „Mit 18“ vielleicht der Song, der ihn am meisten immer wieder einholt.
Marius Müller-Westernhagen und „Sexy“ (von „Halleluja“, 1989) – kompliziert und unvergesslich
Bei genauer Betrachtung ein komplizierterer Song, als es zunächst den Anschein hat. Man war ja 1989 gerade mal Teenager, und dann röhrte einem im Radio ständig der Typ das Reizwort „Sexy“ in die Gehörgänge. Schwör‘, echt jetzt: Als sehr junger Mensch und vor dem Triumph der Ironie in den unschlagbaren Neunzigern nahm man die Zeile „Du bist ‘ne Waffe, für die es keinen Waffenschein gibt“ nie ernst, im Gegenteil. Was war denn das für eine bescheuerte Metapher, Hilfe! „Was hast du bloß aus diesem Mann gemacht“ war aber auch später noch eine Art Offenbarung, ist es bis heute: Dieses Lied ist ein Lied über eine mächtige Frau.
Sie called die shots, sie sagt, wo es langgeht. Als Hymne auf die körperlich anziehende Frau hat der Song aber nie funktioniert. Er schildert die sexuelle Hörigkeit eines notgeilen Alten. Der wird damit zur lächerlichen Figur, ist aber nicht so gefährlich wie die Harvey Weinsteins dieser Welt. Weiblichkeit als Waffe ist immer okay, wenn er am Ende den Stiefel leckt und sie das auch noch gut findet. Weil: „Sexy, du wirst reich, stirbt er am Herzinfarkt“. Berechnend, aber okay. Wobei Frauen natürlich heute genug Geld verdienen sollten, um sich nicht ins Erbe schleichen zu müssen.
Marius Müller-Westernhagen setzte mit „Weil ich dich liebe“ (von „Halleluja“, 1989) auf Romantik
Westernhagens populärstes Liebeslied. Ist nie so Adoleszenz-tauglich gewesen wie „Flugzeuge im Bauch“ und auch bei weitem nicht solch ein Klassiker. Westernhagen hat übrigens 700.000 Hörerinnen und Hörer auf Spotify im Monat. Grönemeyer hat doppelt und Udo Lindenberg fünfmal so viele. Westernhagen hat den Zeitläuften am wenigsten entgegenzusetzen gehabt. Er feierte anders als Udo kein Giganten-Comeback und veröffentlichte zuletzt weitaus weniger Alben als Herbert.
Wenn man „Weil ich dich liebe“ jetzt wieder hört, fällt einem zuerst auf, wie laaaaange man es nicht mehr gehört hat. Was eigentlich unerhört ist. „Weil ich dich liebe, noch immer und mehr/Weil ich dich brauche, ich brauch dich so sehr/Ich habe Sehnsucht, ich verzehr mich nach dir/Vertrau mir, bleib bei mir“ sind Verse für die Ewigkeit und einen oder eine, der oder die gerade barmt und schluchzt und jammert und hofft. Die Coolness der Gegenwart haben Westernhagens Lyrics („Du bist für mich geboren, ich lebe nicht umsonst“) aber nicht. Wobei: Wenn das einer rappt, ist es wahrscheinlich der heiße Scheiß.
Marius Müller-Westernhagen schrieb mit „Freiheit“ (von „Live“, 1990) die Hymne zur Einheit
Jahrzehntelang glaubte Udo Lindenberg als ziemlich einziger Deutschrocker an die Wiedervereinigung, und wer stiehlt ihm dann nach der Wende musikalisch die Show? Ausgerechnet der ehemalige WG-Kumpel Marius (und Klaus Meine und David Hasselhoff) mit „Freiheit“. Das Lied erschien zwar bereits 1987 auf „Westernhagen“, wurde aber im September 1990, zwei Wochen vor dem Vollzug der Einheit, aus dem Konzertalbum „Live“ ausgekoppelt.
Das Video mit Lichtermeer, „König der Welt“-Pose und albernem Hut wurde geradezu ikonisch, und leider waren wir doch so naiv, beim finalen „Frahahahahait“-Chor der in der Dortmunder Westfalenhalle mitgeschnittenen Fan-Ekstase in Tränen auszubrechen und an das Gute zu glauben. „So wie wir heute Abend hier!“ Alle, die von Freiheit träumen, sollen das Reihern nicht versäumen beim Rückblick auf „Wind Of Change“, „Looking For Freedom“ und „Freiheit“, wobei das Lied von Marius von diesen drei Songs am besten gealtert ist.
„Willenlos“ (von „Affentheater“, 1994): Ein etwas aus der Zeit gefallener Westernhagen-Song
Ein weiterer Westernhagen-Song über das männliche Ergebensein. Schon wieder Fuß-Erotik: „Ich lutschte an ihren Zehen/Und ich war wirklich/Nicht in der Lage/Ihr aus dem Wege zu geh‘n“. Und die Frau als das zum Lustobjekt degradierte Körperwesen: „Selbst im Büro/Im Damenklo/Hab ich sie geliebt/Die Erika, die Barbara/Erst recht die Marie“. Ein Prahl-Stück über sexuelle Eroberungen, das man heute keinem Mittvierziger mehr durchgehen lassen würde. Allerdings ist die Instrumentierung so irre fröhlich, das ist doch alles auch eine Komödie, ein Spaß, eine Unverfrorenheit. Westernhagen hat viel über Frauen gesungen, über männliche Untreue. Hach, waren das noch Zeiten, „als man das noch durfte“.
„Es geht mir gut“ (von „Affentheater“, 1994): Westernhagen und sein Gute-Laune-Song
Unweigerlich die Erinnerung an die Pubertät. Der alte Sack im Radio sang im Radio immer so penetrant „Es geht mir gut“. Wir wollten aber nur deprimiert Nirvana hören. Was bildete der sich ein? Und was sollte dieses nervig-nervöse Keyboard, das wie eine Quetschkommode klang?
Es gab 1994 kein Lied, das verachtenswerter gewesen wäre, wenn auch nicht unbedingt wegen der Songzeile „Michael Jackson geht mit kleinen Jungs ins Bett“. Klar, die war natürlich verstörend, weil sie sich auf verstörende Vorgänge bezog. Trotz eindeutiger Hinweise auf das Gegenteil der behaupteten guten Laune („Keine Ahnung, keine Meinung, kein Konzept, keine Lust um aufzustehn“ – mehr Adoleszenz ging ja eigentlich gar nicht!) blieb nur ebendiese hängen. Und heute? Ist man längst schlau genug, eine jede gute Laune als Geschenk und Handlungsanleitung zu sehen: Komm, sei nicht immer so griesgrämig, mach‘s wie Marius.
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„Lichterloh“ vom „In den Wahnsinn“-Album: Schockierend offenherzig
Zwölf Jahre nach „Freiheit“, also 2002, war die Welt nicht mehr so schön, sie brannte wieder „Lichterloh“, und Westernhagen winkte ihr zum Abschied in einem seiner besten Songs, der mehr oder weniger gewollt stark an „The End“ von den Doors erinnert. Das schockierend offenherzige Album „In den Wahnsinn“, lyrisch so etwas wie Westernhagens „Feuchtgebiete“, erschien drei Jahre nach seinem Abschiedskonzert 1999 auf dem Heiligengeistfeld als Rücktritt vom Rücktritt, und er wollte vieles anders machen, in Berlin leben und nie wieder „Sexy“ live spielen zum Beispiel.
Viele Fans wandten sich damals ab oder pfiffen ihn aus, und es brauchte einige Jahre, bis sich alle versöhnt hatten. Übrigens ist „In den Wahnsinn“ bis heute das einzige Album geblieben, auf dem Westernhagen nicht auf dem Coverfoto zu sehen ist, sondern der österreichische Künstler Gottfried Helnwein beim Malen seiner schlafenden Tochter.
„Wir haben die Schnauze voll“ (von „Williamsburg“, 2009): Westernhagen in New York
„Williamsburg“ war 2009 das erste (und letzte) Album auf dem eigenen Label Whagen und 22 Jahre nach „Westernhagen“ das erste Album, das an der Spitze der Charts vorbeischmierte. Und das ist maximal ungerecht, denn diese im New Yorker Stadtteil Williamsburg aufgenommene Rückbesinnung auf den Rock der 70er, auf Blues und Soul ist so richtig schön grob mundgebissen, klingt nahezu live und schnörkellos.
Das liegt zugegebenermaßen weniger an Marius als an seiner damals neuen Band mit den US-Boys Peter Stroud, Larry Campbell, Jack Daley, Andy Newmark, Shawn Pelton und Kevin Bents, allesamt mit allen Feuerwassern gewaschene, abgewichste Rockprofis, die Westernhagens Konzerte in den folgenden Jahren gehörig unter Dampf setzen sollten. „Wir haben die Schnauze voll von Dope und Alkohol, von Medienpolitik“, singt Marius in der Hymne auf unseren Redaktionsalltag: Sex, Medienpolitik & Rock‘n‘Roll.