Berlin. Ein Gespräch mit Marius Müller-Westernhagen über kleine Clubs und große Hallen, „Dicke“ und Schädel, Berlin und Hamburg.

Man hätte es für einen Scherz halten können, als Marius Müller-Westernhagen sein Album „Alphatier“ am 1. April 2014 live in der Großen Freiheit 36 vorstellte. War es aber nicht. Nun geht es wieder in die ­Arenen, am 8. Oktober beginnt der dünne Hering seine Tour in der Hamburger O2 World. Wir trafen ihn im berühmten Promi-Restaurant Borchardt in seiner Wahlheimat Berlin, vor der Tür parkten Polizei und Staatsschutz, um auf den ebenfalls dort eingekehrten Vizekanzler Sigmar Gabriel aufzupassen. Rock ’n’ Roll ist anders – bis Western­hagen im gemütlichen Hinterzimmer von Schweiß und Leidenschaft, James Brown und Rod Stewart erzählt.

Hamburger Abendblatt: Herr Müller-Westernhagen, reden wir über Geruch. Über süßen Gestank, über Bierdunst, der aus altem Holz suppt, über Schweiß aus 1500 Leibern: So war es letztes Jahr auf Ihrer Clubtour in der Großen Freiheit 36. Haben Sie das vermisst?

Westernhagen: Ich weiß nicht, ob ich es vermisst habe. Aber es war notwendig. Wir waren gerade fertig mit den Aufnahmen zu „Alphatier“ in New York, und wir waren alle der Meinung: Das müssen wir live am Stück spielen. Im Club. Vielleicht waren wir naiv, denn in der Branche heißt es immer, die Leute nehmen nichts Neues an und wollen nur Hits hören. Aber ich habe dann einen Veranstalter getroffen, der gesagt hat: „Clubtour? Mache ich dir. Aber nur, wenn du keinen Pfennig Geld verdienst.“ So war das auch. Und die Leute sind durchaus bereit, etwas Neues zu feiern. Ein tolles Erlebnis.

Wie riecht eigentlich Ihr Probenraum?

Westernhagen: Inzwischen ein wenig besser. Mein erster war in einer Tief­garage in München, ohne Fenster oder Lüftung, da bekam man vom Gestank einen dicken Schädel.

Erinnern Sie sich noch an Ihr Konzert 1980 in der Markthalle?

Westernhagen: Ja. Ich glaube, ich habe da mehrere Abende hintereinander gespielt, der Saal war überfüllt, es gab ­effektiv keine Luft mehr im Raum. Oder die kleine Dortmunder Westfalenhalle, da lief das Wasser von den Wänden. Und die Fans waren früher so wild, die haben sogar die Bühne verschoben. An solchen Abenden zu singen war wie Bergsteigen ohne Sauerstoffgerät.

Der Abend letztes Jahr in der Freiheit erinnerte daran, auch weil der Sound knusprig, roh und ungeschliffen im Sinne von Rolling Stones und Led Zeppelin war. Es heißt ja immer wieder, Rock sei tot ...

Westernhagen: Nee!

... aber das ist Schwachsinn, oder?

Westernhagen: Totaler Schwachsinn. Es gibt keine Musik, die so emotionalisiert und Menschen zusammenbringt wie der Rock. Beispiel: Das Diana-Gedenkkonzert 2007 in Wembley. Da waren ­diverse Popstars und Hip-Hopper, wirklich cool. Aber richtig explodiert ist das Stadion bei Rod Stewart. Weil er seine Seele öffnet beim Singen. Das tut weh! Das strengt an! Du machst dich verletzbar. Und das spüren die Menschen­ ­intuitiv. Der Rock ist in seinen besten Jahren.

Sie sind jetzt 66, das Alter, in dem das Leben anfängt, wie der leider gestorbene Udo Jürgens sang. Übrigens ein Künstler, der damit haderte, neue Lieder vorstellen zu wollen, aber auch immer die alten Hits liefern zu müssen. Stimmt es, dass Sie „Willenlos“ oder „Freiheit“ nur noch mit viel Ironie auf der Bühne stemmen können?

Westernhagen: „Willenlos“ ist im Grunde genommen ein Popsong. Ein guter Popsong, aber ein Popsong. Und wenn ich den in einer Hotelbar höre, gespielt von einer Unterhaltungskapelle, ist das manchmal schon komisch. Man hört ja die erstaunlichsten Sachen. Aber diese Lieder musst du aus Respekt vor dem Publikum einfach spielen. Und wenn du sie dir immer neu erarbeitest und ­variierst, dann verliebst du dich auch neu in sie. Das ist ein Grund, warum ich seit Jahren nicht mehr „Dicke“ spiele. Das hat nichts mit dem Text zu tun, sondern mir fällt einfach kein Weg mehr ein, wie ich diese Komposition interessant interpretieren könnte.

„Freiheit“ spielen Sie aber immer noch identisch wie auf dem 89er Live-Album. Inklusive der Ausrufe „so wie wir heute Abend hier“ und „so kommt jetzt“. Ist das Ironie oder reines Entgegenkommen?

Westernhagen: Bis zu einem gewissen Punkt ist das Entgegenkommen. Ich habe „Freiheit“ auf der Clubtour nicht gespielt und ich weiß auch nicht, ob ich es im Oktober spielen werde. Ich habe ein Problem mit Liedern, die eine Bedeutung erlangen, an die man vorher nicht gedacht hat. Das kann peinlich werden, wenn man im Fernsehen Bands sieht, die noch nach Jahrzehnten nur diesen einen Song spielen. Das hat so einen nostalgischen Touch, den ich überhaupt nicht mag. Ich will doch weiter lernen und etwas für mich mitnehmen.

Was nehmen Sie denn von der Clubtour mit, wenn es im Herbst wieder in die großen Hallen geht?

Westernhagen: Die Band! Und wir haben die Videoleinwände so konzipiert, dass sie Räume erzeugen, ohne von der ­Musik abzulenken.

Damit man nicht das Gefühl hat, eine Live-DVD zu sehen?

Westernhagen: Oder eine Autopräsentation. Nein, wir wollen für Tiefe sorgen und auch die Zeit, in der wir leben, reflektieren. Mal sehen, ob uns das gelingt. Ein bisschen Risiko muss ja sein.

Dann riskiere ich mal diese Frage: Vermissen Sie Hamburg eigentlich? Zumindest ein wenig?

Westernhagen: Ich habe über 30 Jahre lang in Hamburg gelebt und eine tolle Zeit gehabt, besonders in den 70ern und 80ern. Da war Hamburg das Zentrum der deutschen Musik. Was erstaunlicherweise auch mal Düsseldorf war, wo ich herkam. Wenn ich an Kraftwerk denke, die elektronische Szene, ich hab ja mit den ganzen Jungs gespielt. Und dann ging es nach Hamburg, wo die ­Musikindustrie war, die Clubs. In den Villen, in denen heute Millionäre wohnen, hausten Dealer und Kommunen, es war eine wilde, wilde Stadt.

Länger her.

Westernhagen: Das ist länger her. Dann beginnt der Aufstieg und du lebst an der Alster wie jemand, für den sich der ­geplante Lebenstraum erfüllt hat. Aber in dem Moment, wo man mit dem ­Leben zufrieden ist, entschließt man sich, alt zu werden. Und so habe ich mich nach 30 Jahren lieber bewegt. Berlin faszinierte mich immer, besonders als die Mauer fiel und die klaustrophobische Enge verschwand. Trotzdem ist Hamburg die schönste Stadt der Welt. Nur das Wetter ist problematisch.

Im Winter wird man schwermütig.

Westernhagen: Stimmt. Aber ich bin nicht gegangen, weil es mir dort überhaupt nicht mehr gefiel. Obwohl Hamburg nicht alles richtig macht. Eine Stadt sollte sich mehr über ihre Kultur definieren als über ihren Wohlstand. So hat London viel von seiner Seele verloren. Was macht eine Stadt denn aufregend? Wenn sie darauf verzichtet, nur darauf zu achten, dass sich etwas lohnt. Wenn du nur darauf schaust, dass eine Idee Gewinn verspricht, dann bist du kein Künstler, sondern dann bist du eine Hure.

Sie haben in den 90er-Jahren mit ziemlich bombastischen Auftritten Maßstäbe gesetzt und dann eine lange Pause gemacht. Was hat Sie zurück auf die Bühne gelockt? Der allgemeine Boom der Livemusik?

Westernhagen: Viel banaler. Ich brauchte 1999 eine Pause, ich konnte meinen eigenen Namen nicht mehr sehen, das nahm schon paranoide Züge an. Also habe diese Zeit hinter mir gelassen und nur Platten gemacht – bis ich U2 in den Niederlanden gesehen habe. Eigentlich doch ganz geil, dachte ich mir. Der Stallgeruch, sozusagen. Wer hat schon das große Glück, vor so vielen Menschen aufzutreten und ihnen eine gute Zeit zu bereiten?

Und zu singen, „nicht schön, aber geil und laut“.

Westernhagen: Ich bin interessiert an Stimmen, die eine Signatur der Leidenschaft haben. Gerade heute, wo im Pop vieles gleich klingt. Meine Vorbilder, Otis Redding oder James Brown, die haben nicht „schön“ gesungen. Aber du hast sie gefühlt. Richtig ... gefühlt.

Westernhagen Do, 8.10., 20.00, O2 World,
Karten ab 48,50 gibt es schon jetzt im Vorverkauf; www.westernhagen.de