Hamburg. Hamburgs nächster Generalmusikdirektor, der israelische Dirigent Omer Meir Wellber, über den Krieg zwischen Israel und der Hamas.
Dieser Text wurde und wird nicht konkret, und das wochenlang. Zu persönlich, zu schwierig, heikel, schmerzhaft sicher auch die Vorstellung, Worte finden zu sollen. Schon kurz nach den Terror-Angriffen der Hamas am 7. Oktober ging die erste Anfrage an den aus Israel stammenden Dirigenten Omer Meir Wellber, an jenen Musiker, der 2025 an der Hamburgischen Staatsoper die Nachfolge von Kent Nagano antreten wird, gemeinsam mit dem Regisseur Tobias Kratzer als neuem Intendant.
Krieg in Nahost: Warum der israelische Dirigent Omer Meier Wellber gespalten ist
Meir Wellber wurde 1981 in Be’er Scheva geboren, einer Großstadt im Süden Israels, am Rande der Wüste Negev, rund 50 Kilometer entfernt vom Gaza-Streifen. Zu seinem ersten Kompositionslehrer Michael Wolpe ist er zu dessen Kibbuz mit einem Bus durch die Wüste gefahren. Seit dem 7. Oktober ist Be’er Scheva auch rund 50 Kilometer entfernt von diesem neuen Krieg.
Meir Wellber war in diesen Tagen unter anderem in Leipzig, für ein Konzert. Gerade laufen am Teatro Massimo in Palermo, dort ist er Musikdirektor, die Proben für eine Neuproduktion von Bellinis Oper „I Capuletti e i Montecchi“, eine Variation über den „Romeo und Julia“-Stoff, den Shakespeare zum Theater-Klassiker machte, Premiere ist dort am 22. November. Zwei bis auf den Tod verfeindete Familien, was für ein Timing.
Omer Meir Wellber: „Ich mache mir große Sorgen um meine Heimat“
Ein Interview? Vielleicht, kam immer wieder mal zurück, womöglich, dann wieder: doch nicht. Zu viel zu tun als Musiker, gleichzeitig aber auch zu viel zu begreifen, als fassungsloser, entsetzter Mensch und Sohn und Vater aus Israel. Das Hin und Her zog sich über mehrere Wochen, bis doch per Mail dieser Text von Omer Meir Wellber aus Palermo eintraf. Im Februar, Monate vor dem Ausbruch dieses Konflikts, hatte er der „FAZ“ gesagt: „Ich mache mir große Sorgen um meine Heimat.“
Anfang der 1950er-Jahre entbrannte in Israel eine heftige Debatte: Sollen wir diplomatische Beziehungen aufnehmen oder nicht? Sollen wir von Deutschland wirtschaftliche Unterstützung für die Überlebenden des Holocausts akzeptieren? Kann unser Schmerz Verhandlungen mit Deutschland überhaupt verkraften? Können wir verzeihen?
David Ben-Gurion, Gründer und erster Regierungschef Israels, kämpfte seinerzeit gegen die Extremisten, die den Hass, den Schmerz und das Trauma nicht enden lassen wollten. Ben-Gurion aber wollte leben und atmen. Er wollte, dass die Menschen in Israel leben und atmen und traf genau deshalb eine schwierige, für viele sogar schmerzhafte Entscheidung, eine, die die Geschichte des jüdischen Volkes veränderte: Er wandte sich Deutschland zu.
Haben wir vergessen? Nein. Haben wir verziehen? Auch nicht. Aber hassen wir? Nein. Ben-Gurions weitsichtige Entscheidung von damals bewahrte Generationen vor einem Leben in Schmerz und Hass. Haben die Deutschen vergessen? Nein. Haben sie sich selbst verziehen? Auch nicht, aber haben sie sich mit ihrer jüngsten Vergangenheit auseinandergesetzt? Ja, ihre Staatsoberhäupter trafen die sehr mutige Entscheidung, die Vergangenheit nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern den jungen Staat Israel zu unterstützen und halfen damit den nächsten Generationen. Deutschland wurde zu einem weltweit führenden Land des liberalen Denkens. Die Beziehungen zur jüdischen und israelischen Welt blühten auf.
In der Kunst, der Wirtschaft, in Bildung und der Wissenschaft, auf nahezu jedem Feld des gesellschaftlichen Lebens, gehen die beiden Länder seither gemeinsame Wege. Wie konnte das gehen, nach den Schrecken des Holocausts Vergebung und Freundschaft zu finden? Die Antwort ist eine sehr tiefgehende: Juden und Christen haben sich ihrer gesellschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Gemeinsamkeiten besonnen, auf ihren ‚common ground‘ also, wie es im Englischen so treffend heißt. Obwohl ein Teil der christlichen Welt versucht hat, sich dagegen zu wehren, ist es uns verblüffenderweise sogar nach sechs Millionen Todesopfern gelungen, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, eine, die die auf gemeinsamen Werten beruht.
Israel und Deutschland, Juden und Christen hatten den Mut, mehr über das nachzudenken, was sie verbindet, als was sie trennt. Jeder von uns kennt das, sogar aus der scheinbar unbedeutendsten eigenen Erfahrung, dass man verzeihen und gemeinsam den nächsten Schritt gehen kann, wenn man sich sicher fühlt.
Können wir das, was uns mit Deutschland gelungen ist, mit den Palästinensern wiederholen? Uns gegenseitig in die Augen schauen und mehr darüber nachdenken, was uns verbindet, als darüber, was uns trennt?
Omer Meir Wellber: „Netanjahu ist genauso verantwortlich wie die Hamas“
Der grausame Anschlag vom 7. Oktober wird in die Geschichte des jüdischen Volkes eingehen. Er wurde von der Hamas, der terroristischen Führung der Palästinenser, verübt. Sie hat dafür einen Zeitpunkt gewählt, an dem auch Israel von extremistischen und unverantwortlichen Politikern regiert wird. Seit mehr als zehn Jahren befinden wir uns in den Händen von Benjamin Netanjahu, der die israelische Gesellschaft völlig zerstört hat: Er hat politische Lager geschaffen, die sich seither unversöhnlich gegenüberstehen. Er hat jedes Gefühl der Brüderlichkeit, das so einzigartig und besonders war in unserem Land, zunichte gemacht. Der 7. Oktober ist auch das Ergebnis von jahrelanger inner-israelischer Korruption und von mangelnder Kommunikation zwischen der Armee und der Regierung aufgrund von fehlendem Vertrauen. Netanjahu ist genauso verantwortlich wie die Hamas. Die Hamas hat uns angegriffen. Aber er hat versagt, uns allen den nötigen Schutz zu gewähren.
Nach inzwischen sechs Wochen frage ich mich, wie es weitergehen soll. Wie kann die Welt zulassen, dass sich Netanjahu als Regierungschef hält und damit Teil (und Mitverursacher) dieser Tragödie ist?
Wir brauchen jetzt Führungspersönlichkeiten, die dem Land helfen können zu heilen. Wir brauchen eine Regierung, der es gelingt, die Palästinenser zur Einsicht zu bringen, eine für beide akzeptable Lösung zu suchen. Gibt es eine gemeinsame Basis, auf der wir für beide Völker zusammen eine Zukunft bauen können, so wie sie zwischen Deutschland und der jüdischen Welt entstanden ist?
Lässt sich dafür dieser ‚common ground‘ finden, so wie wir ihn mit Deutschland gefunden haben? Ich bin, ehrlich gesagt, gespalten.
Omer Meir Wellber: „Sollen wir es wagen und verzeihen?“
In einem aber bin ich mir sicher: Eine Lösung kann nur erreicht werden, wenn wir das Nicht-Extremistische befördern und leben. Wir müssen die israelische Opposition feiern und die palästinensische Opposition, die vernünftigen, friedliebenden Mitglieder beider Gesellschaften und damit all die Menschen auf beiden Seiten, die noch versuchen, für etwas zu kämpfen.
Sollen wir es wagen und verzeihen, um den nächsten Schritt gehen? Die Zukunft kann nur in einer sehr klaren, von Herzen kommenden Antwort auf genau diese eine, immerwährende Frage an uns alle gefunden werden.
In Israel leben fast drei Millionen Juden, die ursprünglich aus arabischen Ländern stammen. Sie gehören mehrheitlich zum rechten Lager und sind seit jeher die treuesten Anhänger Netanjahus. Paradoxerweise, muss man fast sagen, halten sie Netanjahu die Treue, obwohl er sie schlechter behandelt hat als jede andere Regierung Israels vor ihm.
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„Wir müssen für eine Zukunft ohne die Hamas und ohne Netanjahu kämpfen“
Der Schlüssel zur Zukunft liegt für mich genau hier, in der jüdisch-arabischen Bevölkerung Israels, in diesen drei Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die sie ausmachen. Denn aufgrund ihrer Wurzeln verfügen sie über viele Gemeinsamkeiten mit den Palästinensern, sie teilen eine Geschichte, eine Sprache, Essen, Kultur und Ideen. Wenn die arabischen Juden verzeihen würden, würde das den Boden für eine Heilung bereiten.
Ich bin zutiefst überzeugt: Wir müssen für eine Zukunft ohne die Hamas und ohne Netanjahu kämpfen. Und wir müssen dafür die Welt um Hilfe bitten.