Hamburg. Die Antwort auf das Grauen ist nicht Rache – sondern Aufbau. Ein persönlicher Essay von Daniel Kühnel wider die Sprachlosigkeit.

Ich bin ein jüdischer Mensch, der in Israel geboren und aufgewachsen ist, seit 30 Jahren in Deutschland lebt und jetzt nach einer validen Haltung sucht. Nach den Massakern, die viele Hundert palästinensische Hamas-Mitglieder aus dem Gazastreifen im israelischen Kernland verübten, von Tausenden Helfern und Helfershelfern unterstützt, die, noch während Sie diese Zeilen lesen, weitere Morde an Juden in der ganzen Welt planen und organisieren sowie ihrerseits dabei von zahllosen Unterstützern durch Schweigen und Reden bestärkt werden, durchbohrt mich ein Schmerz, der mich sprachlos machen will. Stattdessen spreche ich jetzt.

Zwischen Mai 1903 und Juni 1904, nach dem ersten Pogrom von Kischinew – das zweite Pogrom ereignete sich 1906, beide werden in eine Reihe von etwa 600 Pogromen eingeordnet, die im zaristischen Russland um die Jahrhundertwende gegen Juden verübt wurden –, das in die lange Geschichte von Mordzügen an Juden in Europa als besonders grausam eingegangen ist (49 Ermordete, 92 Schwerverletzte, 500 Verletzte, 1500 zerstörte, vor allem verbrannte Häuser, viele vergewaltigte Frauen), schrieb der später als Nationaldichter des jüdischen Volkes gefeierte Chaim Nachman Bialik zwei Gedichte, die in der Fläche der damals noch großen jüdischen Welt stark resonierten.

Daniel Kühnel: ein Schmerz, der mir den Boden unter den Füßen wegreißt

Das erste Kischinew-Gedicht Bialiks („Über das Schlachten“) ist kürzer und in der Form strenger als das zweite, und es ist noch ganz unpolitisch. Es drückt die unmittelbare, erste und tiefe Erschütterung Bialiks im Angesicht des Grauens aus, das ihm in Kischinew begegnete: zerschmetterte Babys, in ihren Häusern verbrannte Menschen, vergewaltigte Frauen, deren Kinder vor ihren Augen mit dem Beil getötet wurden. Pogrom. Die letzte Strophe des Gedichts lautet:

Nicht Rache! – Verflucht sei der Mund!
Nicht kann selbst die Hölle so grausig Verbrechen,
Nicht Kindsblut rächen –
Und dringe das Blut in den Grund!
Es dringe das Blut in den dunkelsten Abgrund und welke,
Zerfresse im Finstern und tilge
Der Erde verfaultes Gebälk.

Daniel Kühnel: Rache hat wegen der Stummheit der Welt keinen Sinn

Der Schmerz, der mich durchbohrt nach den Massakern vom 7. Oktober 2023, ist der Schmerz dieser letzten Gedichtstrophe: Es ist ein Schmerz, der mir den Boden unter den Füßen wegreißt, ein Schmerz, der mich unfähig macht zu verstehen, wie es sein kann, dass die Erde sich noch dreht, ein zerstörerischer Schmerz also, der die Sinnlosigkeit der Rache aus der offensichtlichen Hoffnungslosigkeit ableitet. Es geht bei der Verweigerung der Rache nicht darum, dass Gewalt nur zu Gewalt führen kann etc., nicht um souveräne und aufgeklärte Vernunft. Rache hat wegen der Stummheit der Welt keinen Sinn.

Unermessliche Trauer: Die Mutter, Schwester und weitere Verwandte bei der Beerdigung von Valentin (Eli) Ghnassia (23), der im Kibbutz Be’eeri getötet wurde.
Unermessliche Trauer: Die Mutter, Schwester und weitere Verwandte bei der Beerdigung von Valentin (Eli) Ghnassia (23), der im Kibbutz Be’eeri getötet wurde. © Getty Images | Alexi J. Rosenfeld

„Die Sonne schien, die Akazie blühte, der Schlächter schlachtete“ schreibt Bialik wenige Monate später, im zweiten Kischinew-Gedicht. An wem sollen wir uns angesichts des Grauens rächen können? An den Schlächtern, an den Akazien oder an der Sonne? Wie sollte diese Rache aussehen und wie würde sie dabei helfen, weiter zu stehen, weiterzuleben, weiter zu handeln in einer Welt, die ob ihrer Stummheit nur wert scheinen kann, unterzugehen? Oder wie bezeichnet man eine Welt, in der geköpfte Babys und vergewaltigte Frauen von Organisationssprechern in Nachrichtensendungen kommentiert werden?

Nationalgedicht: Es befreite viele junge jüdische Menschen aus der Schockstarre

Wo also stehen wir? – Im zweiten, langen Kischinew-Gedicht („In der Stadt des Tötens“) formt Bialik seine journalistische, minutiös dokumentierende Untersuchung des Pogroms literarisch um und prangert auf bis dahin unerhörte Weise in einem hochsarkastischen Ton die Schicksalsergebenheit, die Duldsamkeit, die Abhängigkeit, die politische Weltlosigkeit seiner Brüder und Schwester, der europäischen Juden an. Das Gedicht erschütterte die jüdische Welt bis ins Mark und löste eine Welle tätigen politischen Befreiungswillens in der jüdischen Welt aus. Es stärkte spät, aber erheblich die zionistische Bewegung auf entscheidende Weise.

Schon seit den späten 1870er-Jahren schlossen sich vor allem junge Menschen der bis dahin nur schwachen jüdischen Nationalbewegung, dem Zionismus, an, angetrieben vom Wunsch, die eigene Sicherheit, Integrität und Würde durch politische Befreiung durchzusetzen. Bialiks Gedicht war im langen Prozess der nationalen Emanzipation der Juden ein Meilenstein. Es befreite viele noch hadernde junge jüdische Menschen aus der Schockstarre früherer Generationen und machte aus ihnen, gleichsam über Nacht, überzeugte neue Zionisten.

Daniel Kühnel: Das Grauen der Stummheit der Welt

Die Antwort der Zionisten auf das Grauen der Stummheit der Welt, in der die Schlächter ebenso schlachten wie die Sonne scheint, war der Aufbau. Sie gründeten ein Land, das ein Wunder ist, von dem ich selbst zeugen kann. Ein Land der Integration vieler Kulturen, das in seinen besten Stunden die Perspektive der ältesten Olivenbäume mühelos mit den Technologien von übermorgen verbindet. Ein Land, in dem ich erlebt habe, wie Menschen, die tagsüber Bananenplantagen anlegten, um Sümpfe zu trocknen, am Abend Bachs Matthäuspassion am Klavier spielten und sangen, obwohl keine Partitur zur Hand war. Ein Land, dessen Wüste Lehrer hervorgebracht hat, die die schönsten Einsichten in Schumanns „Waldszenen“ produziert haben. Ein Land, das einer Sprache geboren wurde, die es erst wieder zu erfinden galt.

Ein Land, vor allem, das einer Zivilgesellschaft geboren wurde, die lange, ehe sie sich einen Staat gebar, die politischen, geistigen und rechtlichen Geschicke ihrer Bürger in spe konsensual vertrat, verlässlich lenkte und dabei extremistische Tendenzen und Organisationen aus ihrer Mitte auszuschließen verstand. Ein Land mit vielen Fehlern, das diese in seiner komplexen und gefährlichen Realität dauernd lebendig diskutiert. Ein Land, dem schon immer unzählige Probleme aufgedrängt worden sind, die es gewiss nicht alle allein zu verantworten hat, die es aber allein lösen muss, und das trotz alledem immer noch und immer wieder vor allem mit Aufbau befasst ist. Es ist beschäftigt, dieses Land!

Kühnel: Die Relativierungen beginnen wenige Tage nach dem mörderischen Schlachten

Diesem Land wird von vielen Menschen eine Gründungsgeschichte zugeschrieben, die lautet: Nach dem Holocaust musste die Welt dem jüdischen Volk die politische Freiheit gewähren – ein Zugeständnis, das zulasten des palästinensischen Volkes, das für den Holocaust nichts konnte, gegangen wäre. Den Palästinensern stehe ein eigener Staat zu, den Israel durch seine Gründung 1948 und verstärkt seit 1967 vor allem durch seine Siedlungspolitik verhindern würde. – Ich habe diese Art der ahistorischen Analyse von manchen Israelis und von unzähligen deutschen Wortführern gehört. Damit verbunden ist die in der arabischen Welt weit verbreitete Erzählung, die besagt, dass das jüdische Volk dem palästinensischen Volk das Land – mit welchem Juden nichts außer einer Behauptung verbinde – geraubt, entwendet, erschlichen, gestohlen habe. Mit der Nakba, der Vertreibung 1948, wäre das schlimme Schicksal des um seine Rechte betrogenen palästinensischen Volk besiegelt, die Urkatastrophe vollendet worden.

Die infamen Relativierungen des Massakers vom 7. Oktober setzen auf dieser Grundlage bereits wenige Tage nach dem mörderischen Schlachten an: Auch palästinensische Kinder hätten das Recht auf eine gute Schulbildung, heißt es auf Demonstrationsplakaten palästinensischer Frauen, die mit solchen Gemeinplätzen Massaker an anderen Kindern rechtfertigen wollen? Der Gazastreifen sei wie ein großes, von Israel unterhaltenes Gefängnis, heißt es in englischen Medien in gewohntem Zynismus; die militärische Reaktion der Israelis nehme 2,2 Millionen Palästinenser im Gazastreifen als Geisel und käme einer ethnischen Säuberung (sic!) gleich, erklärt ein palästinensischer Analyst im Nadelstreifenanzug Objektivität prätendierenden europäischen Reportern, die fleißig und besorgt nicken.

Daniel Kühnel: „Freiheit kann nur im Bewusstsein der Verantwortung entstehen, die man für sich und für andere hat“

Und natürlich hätte all das nichts mir Antisemitismus zu tun, es sei nur „legitime Israelkritik“. Gehören die Aufrufe der Hamas, am ausgerufenen sogenannten „Tag des Zorns“, Freitag, den 13. Oktober, überall in der Welt Anschläge auf Juden zu verüben, in dieselbe Kategorie?

Nun – „es dringe das Blut in den dunkelsten Abgrund und welke, zerfresse im Finstern und tilge der Erde verfaultes Gebälk“ – möge jeder für sich entscheiden, was es mit solcher „Israelkritik“ auf sich hat. Ich stelle indes klar: Das einzige relevante Band zwischen Volk und Land – ganz gleich von welchem Volk und von welchem Land wir sprechen wollen – ist das Bewusstsein des Volkes der Zugehörigkeit zum Land. Das jüdische Volk hat in seinem Altneuland seine politische Freiheit verwirklicht. Es hat sich eine Existenz aufgebaut, die es vor allem seiner schaffenden Energie zu verdanken hat.

Familienmitglieder trauern während der Beerdigung eines israelischen Soldaten.
Familienmitglieder trauern während der Beerdigung eines israelischen Soldaten. © dpa | Francisco Seco

Wer immer die Kraft, die unermessliche Kraft, die furchtlose Fantasie, die unbedingte Überzeugung, die praktische Fähigkeit, den Willen zum Frieden, die nötige Geduld, die unabdingbare Opferbereitschaft, die umsichtige Verantwortung, den festen Glauben, die Liebe zu den Menschen und noch einmal die Kraft hat, für sich das Gleiche zu vollbringen, möge endlich beginnen, und es wird ihm vielleicht gelingen! Gaza ist nicht unfrei wegen Israel, das palästinensische Volk nicht unfrei wegen Israel. Diese Sicht des Problems ist in Europa ungewohnt, aber Israel ist für die politische Befreiung des palästinensischen Volkes nicht verantwortlich und kann es nicht sein. Freiheit kann nur im Bewusstsein der Verantwortung entstehen, die man für sich und für andere hat, und dieses konstruktive Verantwortungsbewusstsein kann nicht, wo es fehlt, geschenkt werden. Israel muss sich zwar tagein, tagaus mit den Folgen der schrecklichen Unfreiheit der Palästinenser befassen, trägt aber für dessen Befreiung nicht die eigentliche Verantwortung. Dieses dialektische Verhältnis – das Mitgefühl für unschuldige Kinder und Frauen im Gazastreifen einschließt – gilt es zu verstehen und auszuhalten. Der blutrünstige und zerstörerische Hass auf Israel und auf Juden ist eine Ausrede, die die Unfreiheit sich selbst schenkt.

Daniel Kühnel: Baust du und ermöglichst du Sinn?

Die Hamas und alle anderen Terrororganisationen der Palästinenser bekämpfen keinen Usurpator. Sie bekämpfen ein Volk, das sich aus ihrer Sicht die fortgesetzte Provokation leistet, sich seine Freiheit selbst errungen zu haben.

Die Antwort der Zionisten auf die Stummheit der Welt war der Aufbau einer Welt, in der es Sinn macht, nach Sinn zu suchen. Diese Antwort ist mir – der gerne in Deutschland lebt – zum Maßstab geworden, zu einer Frage, die mir täglich im Umgang mit meiner Familie, mit meinen Freuden und in meiner Arbeit nachklingt: Baust du und ermöglichst du Sinn? Auch darin bin ich Jude. Und darin bleibe ich Zionist, Sohn einer Zionistin, selbst Tochter eines Zionisten, selbst Sohn eines sich in Liebe nach Zion Sehnenden. So geht es seit 70 Generationen.

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Israel ist da, um zu bleiben. Alle, die sich nicht daran gewöhnen wollen, machen sich und allen anderen das Leben schwer. Das ist Spielregel und Ergebnis zugleich, eine andere Partie gibt es nicht. Rache kommt in diesen Spielregeln nicht vor! Von Vergeltung zu sprechen, wie es auch in jeder deutschen Nachrichtensendung geschieht, zeugt von begrifflichem Unvermögen. Es geht um das Recht auf weltschaffende Tätigkeit, das Israel sich bewahren muss und bewahren wird. Es ist die einzig angemessene Antwort auf Massaker, Pogrome, Vertreibungen und Todesfabriken. Das wird viele ärgern und erneut provozieren. Mögen sie mich nur in Frieden lassen. Denn ich möchte an einer Welt mitbauen, in der es Sinn ergibt, nach Sinn zu suchen.

Daniel Kühnel, Jahrgang 1973, wurde in Israel geboren und lebt in Hamburg. Er ist Jurist, Musikwissenschaftler und Intendant der Symphoniker Hamburg.