Die Roman-Adaption kommt zur rechten Zeit: Die Auschwitz-Prozesse schrieben Geschichte. Und gehören in dieser Form in den Unterricht.

Wie ausführlich man als Betrachtender der Anklageschrift lauschen muss. Der Ankläger liest, verhaspelt sich, die Kehle ist trocken. So viele Tote, so viele kalte, zynische Taten. 1963, kurz vor Weihnachten, der erste Frankfurter Auschwitzprozess. Getrauert hatten die Deutschen nicht, oder: nur um sich selbst. Die Wirtschaft wunderte, die Fresswelle schwappte, Deutschland war wieder wer. Aber mit der Judenvergasung beschäftigte man sich nicht. „Wir haben zu tun“, sagt der Koch in der Wirtschaft einmal, der Mann, der fetten Braten anrichtet. Keine Zeit für Vergangenheitsbewältigung.

Dann kamen, kurz vor den Studenten, die man später die Achtundsechziger nannte, kurz vorm Generationenknall die Prozesse gegen die Nazi-Täter in den Vernichtungslagern. Von ihnen erzählt nun, auf dramaturgisch angemessen ernste und manchmal fast unübliche Weise, der Fünfteiler „Deutsches Haus“ auf Disney+. Zum Beispiel die beschriebene Szene im Gerichtssaal: Sie reizt die Möglichkeiten durchaus aus, die man bei einer Bildschirmproduktion im Unterhaltungsfernsehen hat. Die Nahaufnahme des Gesichts beim Vorlesen des bestens organisierten Massenmords. Der Versuch, der Shoah ansatzweise gerecht zu werden, indem man sich Zeit nimmt, das Geschehen vor Gericht in eine Form zu bringen, die beim Zuschauer hängen bleibt.

„Deutsches Haus“ auf Disney+ erzählt von den Auschwitzprozessen

Auf der Anklagebank saßen die Eliten der Bundesrepublik, Unternehmer, Ärzte, Apotheker. Ihre Verbrechen waren ungeheuerlich. Sie alle sagten tatsächlich und tun es auch in diesem fiktionalen Werk mit Doku-Charakter: Wir werden hier verwechselt. Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen.

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Auf wie viele Arten und Weisen sie Menschen umbrachten (Zyklon B war nur ein Modus), erfährt in „Deutsches Haus“ die völlig ahnungslose Übersetzerin Eva Bruhns (Katharina Stark), die kurzfristig für den Prozess engagiert wurde. Und mit ihr stehen die Zuschauerinnen und Zuschauer fassungslos vor den sich im Anklägertext offenbarenden Wahrheiten, die die meisten Deutschen auch zwei Jahrzehnte nach Kriegsende nicht akzeptieren wollten. „Deutsches Haus“, dieser von Annette Hess zunächst als Roman und nun fürs Fernsehen verarbeitete Stoff, ist perfektes Anschauungsmaterial für all die, die aus welchen Gründen auch immer nicht wissen, wohin Judenhass führen kann.

Katharina Stark als Eva Bruhns vor der Gastwirtschaft ihrer Eltern.
Katharina Stark als Eva Bruhns vor der Gastwirtschaft ihrer Eltern. © DPA Images | Jaros·aw Sosi·ski

Und, auch das: Warum in Nahost die Dinge so liegen, wie sie eben liegen. Mit einem Staat Israel, der auch gegründet werden musste, weil wir Deutsche so waren wie die, die in „Deutsches Haus“ mit ihren mörderischen Taten und wegsehenden Absichten porträtiert werden. Es kann nicht schaden, darauf hinzuweisen, dass es derzeit in diesem Land wieder Menschen gibt, die Angst haben, hier zu leben. Mangelndes Mitgefühl mit denen, die ausgegrenzt, ermordet wurden und deren Leid später nicht anerkannt wurde, ist das Mindeste, was man den Holocaust-Zeitgenossen vorwerfen muss. Oft noch viel mehr.

„Deutsches Haus“: Der Stoff wurde als Roman in 30 Sprachen übersetzt

Pathos und Melodramatik sind der mit großen Namen (Iris Berben, Anke Engelke) besetzten und aufwendig inszenierten zweiten deutschen Disney-Eigenproduktion nicht fremd. Das half bereits der Romanversion, sie wurde in 30 Sprachen übersetzt. Eva erfährt, dass auch ihre Eltern, die die Gaststätte „Deutsches Haus“ (irgendetwas musste halt als Symbolort herhalten) betreiben, eine Vergangenheit in der NS-Zeit haben: Auf unheilvolle Weise ist ihr Leben mit dem eines der Angeklagten verbunden, eines in Hamburg reich gewordenen Unternehmers.

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Staatsanwalt David Miller (Aaron Altaras) dagegen ist auf der Opferseite in die Geschehnisse verstrickt, sein Furor klingt so: „Bei euch kamen 1933 die braunen Menschlein mit ‘nem Raumschiff nach Deutschland, und danach haben sie sich verzogen, nachdem sie euch armen Deutschen den Faschismus aufgezwungen haben.“ Die anschaulich erzählende Serie setzt immer wieder die Fremdenfeindlichkeit der Sechzigerjahre in Szene. Man weiß nicht mehr ganz genau, ob das wirklich alles überholte Mentalitätsgeschichte ist.

„Deutsches Haus“: Schöpferin Annette Hess ist Spezialistin für deutsche Zeitreisen

Annette Hess hat sich mit der „Ku‘damm“-Reihe und auch der Serienverfilmung von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ längst als Chronistin der deutschen Geschichte etabliert. Es sind die aktuellen Ereignisse und Strömungen, zu denen auch die Wahlerfolge der AfD gehören, die „Deutsches Haus“ im Vergleich zu jenen Arbeiten dringlicher erscheinen lassen. Der Eichmann-Jäger Fritz Bauer, ohne den auch die Frankfurter Auschwitz-Prozesse nicht möglich gewesen wären, taucht am Rande auch hier auf. Im vielfach ausgezeichneten Politdrama „Der Staat gegen Fritz Bauer“ von 2015 wird die Feindseligkeit geschildert, die ihm von vielen Seiten im Täterland entgegenschlug.

Diese Feindseligkeit gegen die Aufklärer und Geschichtsbewussten spürt man auch in „Deutsches Haus“, einer Produktion, die über Disney nun weltweit zu sehen sein wird. Die Deutschen haben in der Nazizeit und im Kalten Krieg mit zwei deutschen Staaten zwei große Erzählungen, für die sich das internationale Publikum interessiert. Filmisch umgesetzt haben sie diese Themen oft ordentlich. Bei „Deutsches Haus“ ist dies auch der Fall.

„Deutsches Haus“ ist auf Disney+ abrufbar.