Hamburg. Das „Orchester im Treppenraum“ machte für seine Krimi-Hörspielversion der „Winterreise“ der Elbphilharmonie zum „Dark Room“.

Mit verbundenen Augen als zufällig zusammengewürfelte Polonaise-Sechsergruppe in den Kleinen Saal der Elbphilharmonie geführt werden, die Stufen entlangstolpern, souverän am drohenden Splitterbruch vorbei, bis hin zum Platz, wo auch immer, keine Ahnung? Eher nicht der Normalfall beim Konzertbesuch dort, diese Methode, doch für normale Konzerte mit Vorspeise, Hauptgang und Dessert ist das „Orchester im Treppenhaus“ aus Hannover mit seinen blickwinkelverschiebenden Spezialformaten auch eindeutig die falsche Adresse. 2021 gab es dafür immerhin einen „FAUST“-Theaterpreis in der Perspektivsparte.

Allen, die mit eigenen Ohren in diesen „Dark Room“ hineinwollten, wurde im Foyer eine weitestgehend blickdichte Schlafbrille verpasst; ein bisschen was von Ü20-Kindergeburtstag hatte das durchaus, war aber gleichzeitig ein interessantes ästhetisches Experiment. Was, oder eher: Wie und wie viel hört man, wenn man nichts mehr sieht? Wenn auch niemand sonst im Raum etwas sieht und wenn nicht nur Musik vor dem geistigen Auge passiert, sondern auch noch ein kleiner Krimi inszeniert wird?

Elbphilharmonie: Man hört auch ohne Augen gut

Die Tonspur dazu lieferte vor allem Schuberts „Winterreise“, seine Sammlung „schauerlicher Lieder“, im Original nur für Stimme und Klavier und das erschütternde Psychogramm einer geschundenen Seele, in 24 Etappen geschildert. Hier auf eine knappe Handvoll Lieder reduziert und einfühlsam bearbeitet für ein zehnköpfiges Mini-Orchester inklusive singender Säge – eine charmante Anspielung auf die mitunter rustikalen Opfer-Entsorgungsmethoden im Kino-Klassiker „Fargo“, mit dessen Plot die Handlung hier liebäugelt.

Diesen Blick hatte man durch die verteilten Schlafbrillen.
Diesen Blick hatte man durch die verteilten Schlafbrillen. © HA | HA

Und so saß man dort also, mit gespannten Ohren im eigenen Stockfinsteren vor den Augen, und kurz vor einem sang diese Säge zur Begrüßung, und es knarzte oder rumpelte später auch da oder dort auf der Bühne, und dann tauchten vorne rechts diese zwei extrem modulationsfähigen Stimmen auf. Ein Mann und eine Frau erzählten sich, dass in einem Wald eine tote Japanerin gefunden wurde, die dort den versteckten Geldkoffer aus „Fargo“ gesucht habe. Die beiden synchronerprobten Profi-Stimmen – die eine, Luise Helm, klingt verdächtig wie Scarlett Johannson, die andere, Norman Matt, wie Cilian „Oppenheimer“ Murphy – raunten geheimnisvoll vor sich hin, der eine oder andere musikalische Spezialeffekt kam aus dem von Thomas Posth geleiteten Orchesterchen.

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Elbphilharmonie: Ein geglücktes Experiment, weitab der Norm

Interessant, wie intensiv das dunkle Knarzen aus jeder einzelnen Klappe einer Bassklarinette werden konnte, weil sie gerade unsichtbar war. Die Geige links wirkte näher, weil sie einen direkter anspielte als das Cello rechts. Ohnehin schien die Bühnen-Klangbalance leicht schräg zu stehen, doch das war offenbar nur eine akustische Täuschung. Ganz links sinnierte die Mezzosopranistin Esther Valentin zur Einstimmung originalgetreu, sie sei fremd ein- und ebenso fremd auch wieder ausgezogen. Die Reise mit Schubert im Gepäck konnte beginnen.

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Ihre Geschichte wurde im Laufe der nächsten 90 Minuten zwar immer verworrener, was aber ein überschaubares Problem blieb, weil die sonderbar mysteriöse Atmosphäre das Schlackern des roten Fadens wieder ausglich. Als kurz vor dem Finale mit Schuberts aschfahlem „Leiermann“ die Erlaubnis zum Abnehmen der Masken kam, war der Überraschungseffekt nicht gerade klein: Ach, hier sitzen wir!? So nah, und so sieht die Sängerin aus, deren Stimme schon vertraut war? Ein geglücktes Experiment, als Gegenstück zum Norm-Angebot, und als Beleg dafür, dass man auch ohne Augen bestens hören kann.

CD: „Winterreise“ (15 Euro / 10 Euro als digitales Album) erhältlich über www.treppenhausorchester.de