Hamburg. Ein Regisseur im Nazi-Zwielicht. Eine Frau, die sich kaputtliebt. Und eine, die trauert. Lesen Sie das, ist alles gut!

Die Buchmesse in Frankfurt (18.–22. Oktober) ist immer noch der größte Branchentreff des Planeten. Immer noch umrahmen zwei Preisverleihungen die Messe. Die Verleihung des Deutschen Buchpreises ist das Startsignal am 16. Oktober, die des Friedenspreises an Salman Rushdie am 22. Oktober der Schlussakkord.

Und dazwischen? Gibt‘s Waggonladungen Bücher in den Messehallen zu bestaunen. Wir stellen ein paar der besonders gelungenen vor: Best-of Literatur, Herbst 2023!

Brigitte Giraud: „Schnell leben“ (FVA)

Als Roman ist dieses Buch ausgewiesen, und eine Erzählung ist es ja auch. Eine Erzählung, für die Brigitte Giraud den Prix Goncourt erhielt, die wichtigste französische Literaturauszeichnung. Eine Erzählung, die nicht erfunden ist, bedauerlicherweise. „Schnell leben“ ist ein Bericht aus Girauds Leben: Wie sie die Liebe ihres Lebens verlor, Claude, der mit dem Motorrad verunglückte. Das Schicksal schlug zu, warum ausgerechnet bei ihnen? Unmittelbar bevor sie mit ihrem Sohn in ein neues Haus ziehen wollten?

Auf schmerzliche Weise stellt Giraud in diesem Text immer wieder die Frage, was hätte sein können – wenn Claude (oder auch sie) an jenem Unglückstag vor 20 Jahren woanders andere Dinge gemacht hätte? Darauf läuft es hinaus: Warum war Claude zur falschen Zeit am falschen Ort? „Schnell leben“ ist eine Faktensammlung, auch über zu schnelle Motorräder. Es stellt die Frage nach Schuld. Und es ist ein Buch über die Liebe und den Verlust.

Das Buchcover von Brigitte Girauds „Schnell leben“.
Das Buchcover von Brigitte Girauds „Schnell leben“. © fva | fva

Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“ (Rowohlt)

Der Roman, der spät im Jahr und pünktlich zur Buchmesse dem großen Lesezirkel der Republik noch mal einen kräftigen Wumms gibt: „Lichtspiel“. Daniel Kehlmanns kühner, komischer, trauriger, atemberaubender Roman in Szenen. Wortwörtlich Filmszenen, wenn Georg Friedrich Pabsts (1885–1967) Sets in den Mittelpunkt rücken.

Leider stehen diese Filmsets im von den Nazis terrorisierten Europa herum. Das ist das Drama dieses Mannes, der mal zu den größten Regisseuren der Welt gehörte. Dann kam Hitler, und Pabst verlor seinen Kompass. Kehlmann stellt die Frage nach Moral, es ist die schwierigste überhaupt. Aber an Pabst lässt sie sich so grell verhandeln: Da hatte es einer schon rausgeschafft aus dem Nazi-Land. Und dann kam er zurück aus Hollywood ins Reich des Bösen. Von Kehlmann wunderbar arrangiert, entblättert sich vor dem Leser das Drama des Menschen, der nicht schuldig werden will und es doch wird.

Das Buchcover von Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“.
Das Buchcover von Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“. © Rowohlt | Rowohlt

Tim Staffel: „Südstern“ (Kanon)

Vanessa ist immer unterwegs. Mit ihrer fahrenden Apotheke. So nennt sie das. Sie verkauft Weed. Pillen. Amphetamine und so, all das verbotene Zeug. Sie ist eine Dealerin. Sie hat einen kaputten Bruder, der als Ex-Soldat nach einem Kriegseinsatz traumatisiert und suizidal ist. Aber kaputt sind in „Südstern“, dem Roman-Comeback Tim Staffels („Rauhfaser“), eigentlich alle.

Auch Deniz, der Streifenpolizist, Mitte 20 wie Vanessa. Sein Vater hat Parkinson, er reibt sich zwischen Job und Kümmern auf. Und er sieht den Hass und die Gewalt auf Berlins Straßen. Berlin, genau: „Südstern“ ist ein astreiner, atemloser, lauter, fulminanter Berlin-Roman. Manchmal fast Großstadt-Kitsch, klar. Aber so räudig und schmutzig und dabei doch human, dass man sich mit Verve in die Seiten stürzt, wenn die Heldinnen und Helden dieses schnellen Romans ihren Überlebenskampf täglich von vorne beginnen. Szenen, Dialoge, Berliner Härte, pochende Herzen: ein tolles Buch.

Das Buchcover von Tim Staffels Roman „Südstern“.
Das Buchcover von Tim Staffels Roman „Südstern“. © Kanon Verlag | Kanon Verlag

Cordelia Edvardson: „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ (Hanser)

„Ein echtes Versäumnis der Erinnerungskultur“, so nennt Daniel Kehlmann im Nachwort die Tatsache, dass Cordelia Edvardsons „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ lange Zeit vergriffen war. Dies sei mehr als eine „literarische Ungerechtigkeit“, so Kehlmann. Letzteres ist es aber eben auch. Dieses schmale Werk, das 1984 erstmals erschien, ist dicht und kunstvoll geschrieben. Es berichtet von Ungeheuerlichem, vom Holocaust. Man hat die Lagerberichte von Primo Levi gelesen, von Imre Kertész; in diese Kategorie gehört auch Edvardsons Buch.

Germanisten kennen die Lebensgeschichte der Autorin, die 1929 in München als Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer zur Welt kam. Nach der Logik der Nazis war Langgässer Halbjüdin und Edvardson Dreivierteljüdin. Mit 14 kam Cordelia nach Auschwitz, während ihre Mutter sich retten konnte. War das ein Verrat der Mutter? Wie war es, „rassenbedingt“ als Problemkind zu gelten, ein Kinderleben als Außenseiterin zu führen? Dies ist ein wahres, ein niederschmetterndes Buch. Ein intensiver Text über eine Mutter-Tochter-Beziehung, die gewaltvoller und gestörter nicht hätte sein können.

Cordelia Edvardsons Roman „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ wurde 2023 neu aufgelegt.
Cordelia Edvardsons Roman „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ wurde 2023 neu aufgelegt. © Hanser Literaturverlage | Hanser Literaturverlage

Terézia Mora: „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ (Luchterhand)

Das vermutlich außergewöhnlichste Buch dieses Herbstes. Ein Roman, bei dem man nicht anders kann, als beeindruckt über das Handwerk Terézia Moras zu reden. Wie macht sie das, dass man sich derart vom selbstzerstörerischen Lieben ihrer Protagonistin Muna fesseln lässt? Von ihrer kranken Liebe zu Magnus, dem Ekelpaket. Das kann man so sagen: Dieser Mann ist ein unsympathischer, verhaltensauffälliger, bindungsunfähiger, ein gewalttätiger Kerl. Und man ist dann schon mittendrin im Sprechen über die Figuren dieses Romans.

Man vergisst die Struktur, die Anlage des Romans, alle Theorie. Man will nur noch über dieses Liebespaar sprechen, in dem eine nur gibt und einer nur nimmt. Oder? Ist Muna selbst schuld? Ist sie vor allem auch: besonders nervig in ihrer Anhänglichkeit, ihrem Masochismus, was soll es denn anderes sein? Mora ist etwas gelungen, was seltener ist, als man oft denkt: Sie hat einen Roman geschrieben, über den man lange und engagiert diskutieren kann. Aber nichts erklärt sich von selbst, und letztlich hilft nicht mal Psychologie weiter: Liebe kann extrem ungesunde Züge annehmen.

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist der neue Roman von Terézia Mora.
„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist der neue Roman von Terézia Mora. © Penguin Random House | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Muenchen

Dana Vowinckel: „Gewässer im Ziplock“ (Suhrkamp)

Herrje, wird hier emotional kommuniziert, es geht halt immer um alles. Ums Vatersein, Muttersein, Kindsein. Marsha wollte, konnte keine Mutter für Margarita sein. Weil: Deutschland. Deutschland ist das Land, in dem die jüdische Amerikanerin aus Illinois auf keinen Fall leben wollte. Und so wuchs Rita mit dem alleinerziehenden Vater in Berlin auf, mit Avi, dem Kantor und sehr gläubigen Israeli.

Die Berlinerin Dana Vowinckel, Mutter protestantische Deutsche, Vater jüdischer Amerikaner, siedelt ihren Roman „Gewässer im Ziplock“ im Transit zwischen Chicago, Israel und Berlin an. Und in den Zwischenwelten persönlicher Beziehungen: Dabei ist die pubertierende Rita der Mittelpunkt dieses um Identität und Familie kreisenden Stoffs, sie begehrt auf, weiß aber nicht einmal, wo sie hingehört.

Vowinckel schildert Ritas Jungsein – mit allem, was dazugehört, Liebe, Sex, Freundschaft, Abgrenzung von den Erzeugern – als besonders knifflige Übung. Das Jüdische, das Jüdischsein in Deutschland wirft noch zusätzliche Fragen auf. „Gewässer im Ziplock“ ist ein hervorragender Coming-of-Age-Roman, der an Olga Grjasnowas „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ erinnert.

Das Buchcover von Dana Vowinckels „Gewässer im Ziplock“.
Das Buchcover von Dana Vowinckels „Gewässer im Ziplock“. © Suhrkamp | Suhrkamp

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Necati Öziri: „Vatermal“ (Claassen)

„Get deutsch or die Tryin‘“ hieß Necati Öziris Theaterstück am Maxim Gorki in Berlin. Dort ging es um türkische Lebensrealitäten im Einwandererland Deutschland, um die Auseinandersetzung eines Sohnes mit seinem abwesenden Vater. Der Stoff ist gut, ergiebig; Necati Öziri, ein Kind des Ruhrgebiets, wo er mit einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs, konnte sich in der eigenen Biografie bedienen. Und er hat dann einen Roman draus gemacht, sein Debüt „Vatermal“.

Der erzählt vom Stress und von der Schönheit des Aufwachsens als Erst-mal-gar-nicht-Deutscher unter Deutschen und anderen Erst-mal-gar-nicht-Deutschen. Von der türkischen Community, von Müttern und ihren Töchtern und Söhnen und wie sie einander wehtun. Er erzählt von der Türkei und dem Zug der Türken gen Mitteleuropa und dann, wie im Falle seines Vaters, wieder in die andere Richtung. Ohne Vater ist Öziris Held Arda doppelt obdachlos. Aber verlassen ist er nie, wenn er mit seiner Gang abhängt, obwohl ihre Existenzen ohne deutsche Pässe prekär sind. Der Sound dieses Buchs ist top, und man kann beim Lesen tatsächlich lachen und weinen zugleich. Made in Germany, Güteklasse A.

Das Buchcover von Necati Öziris „Vatermal“.
Das Buchcover von Necati Öziris „Vatermal“. © ullstein | Ullstein

Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück“ (Klett-Cotta)

Die deutsche Gegenwartsliteratur hat die Gewalt in den eigenen vier Wänden entdeckt. Siehe Terézia Mora, aber auch Anne Rabe. Die 1986 in der damaligen DDR geborene Dramatikerin und Drehbuchautorin („Warten auf‘n Bus“) legt jetzt ihr Prosadebüt vor: „Die Möglichkeit von Glück“. Wie Charlotte Gneuß („Gittersee“) taucht es ein in die DDR-Geschichte. Anders als Gneuß (Jahrgang 1992) ist Rabe (Jahrgang 1986) vor der Wende geboren. Ihren Roman muss man als Anklage lesen. Er besucht, grimmigen, irritierten Blickes, mit seiner längst erwachsenen Erzählerin Stine die Jahre ihrer Kindheit und Jugend. Status: Die innere DDR wird man nicht los.

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Zumindest ist das bei Stines Eltern so. Was bei der Tochter zu einer heftigen Gegenreaktion führt. Die ist doppelt motiviert: Die Eltern sind auch nach 1989 gefangen in den Denkmustern der Diktatur. Und sie schlugen ihre Kinder. „Die Möglichkeit von Glück“ ist ein schmerzhaftes Buch, das eindringlich die Frage nach der DDR-Vergangenheitsbewältigung stellt. Die Verstrickung in die NS-Zeit wurde einst heftig und zu Recht abgefragt, wie ist es mit der Rolle des Einzelnen im Unrechtsstaat DDR? Anne Rabe erzählt die Geschichte der Selbstfindung einer jungen Frau, die das Vertrauen in die Eltern und deren Werte lange verloren hat.

Anne Rabes Debütroman heißt „Die Möglichkeit von Glück“.
Anne Rabes Debütroman heißt „Die Möglichkeit von Glück“. © Klett Cotta | Klett Cotta

Louise Kennedy: „Die Übertretung“ (Steidl)

Der Geistliche, der zu den Kindern spricht: Was für ein furchtbarer Kerl. Man kann fast sagen, dass er ein Hassprediger ist. Als Katholik fällt ihm zu den Protestanten („Prods“) nichts Positives ein. Die Lehrerin Cushla Lavery mag ihn nicht. Einer ihrer Kollegen packt die Gitarre aus, um das pseudo-religiöse Gebrabbel des Pfarrers zu überspielen. Der atmosphärische, lakonische und kluge Roman „Die Übertretung“ spielt im Jahr 1975. Und in Nordirland. Es war eine Zeit, in der es „Bloody Sundays“ gab und permanente Polizeikontrollen in Belfast.

Nordirland war ein Ort der Gewalt. Protestantische und katholische Schulen lagen einander gegenüber mitunter; die mittägliche Schulglocke läutete bevorzugt nicht zur selben Zeit. Geschrieben hat diesen Roman die Ex-Köchin und spätberufene Autorin Louise Kennedy, sie ist eine echte Entdeckung. Ihre katholische Heldin Cushla, eine unheroisch ins nicht allzu helle Licht gerückte Identifikationsfigur, verliebt sich in einen protestantischen Anwalt. Sie gerät auch im Falle eines ihrer Schüler zwischen die Konfessionslinien. Der Hass ist ein Gift, der sich von Generation zu Generation vererbte. Von einer zwar irischen (diese hartnäckige deutsche Irland-Romantik!), aber vor allem unschönen Welt des Alkoholismus und Misstrauens erzählt diese Geschichte meisterhaft.

Das Buchcover von Louise Kennedys Roman „Übertretung“.
Das Buchcover von Louise Kennedys Roman „Übertretung“. © Steidl Verlag | Steidl Verlag

Monika Maron: „Das Haus“ (Hoffmann und Campe)

Wir werden alle alt und hoffentlich nicht einsam. Blicken wir, die wir noch in der Mitte des Lebens stehen (so fühlen wir uns), nach vorne, ins Später. Und lesen deswegen den Rentnerroman, so wie wir ihn uns am ehesten wünschen: Lesen wir „Das Haus“, Monika Marons lässige Erzählung über eine Alten-WG in einem Gutshaus in Mecklenburg. Wobei, alt, was heißt das? Wer heute auf die 70 zugeht, fühlt sich jung genug. Zum Beispiel, um einen Hund zu besitzen. Oder zu rauchen.

Beides, Hunde und Zigaretten, mag Monika Maron, sie hat diese Vorlieben nun in ihrer mal fröhlichen, mal streitenden Wohngemeinschaft verewigt. Dem Lustgewinn stehen Lebensniederlagen und Verluste gegenüber. Senioren mit ihren ramponierten Biografien, mit Marotten, die dennoch zumindest versuchen, es miteinander auszuhalten, wie sollte man ihnen keine Grundsympathie entgegenbringen? Zum Glück sind sie übrigens keine bornierten Weltanschauungsdozierer. Es ist das Jahr 2019, es ist alles kompliziert (Maron hat in ihren vorherigen Romanen manche mit ihren politisch inkorrekten Ansichten vor den Kopf gestoßen) – und da tun die Alten Folgendes: Sie steigen aus der immer wieder heiß laufenden Gegenwart aus. Es passiert fast gar nichts Aufregendes mehr, aber weil Maron so geordnet und konzis schreibt, liest man davon gerne.

Monika Marons erster Roman bei Hoffmann und Campe: „Das Haus“.
Monika Marons erster Roman bei Hoffmann und Campe: „Das Haus“. © Hoffmann & Campe | Hoffmann & Campe