Hamburg. Der Schlagzeuger der Rolling Stones gab eines seiner denkwürdigsten Konzerte im St. Pauli Theater – in einem uncoolen Setting.
„Ausnahmsweise hat mein Timing dieses Mal nicht gestimmt“, verkündete Charlie Watts Anfang August, als er nach einer Operation am Herzen die Teilnahme an der US-Tournee der Rolling Stones im Herbst absagte. Jetzt ist der Rock ’n’ Roll völlig aus dem Rhythmus geraten: Am Dienstag ist Charlie Watts im Kreis seiner Familie im Alter von 80 Jahren in London gestorben.
Was Watts nicht nur als Schlagzeuger der in Kombination größten, eitelsten, verrücktesten, skandalösesten und kreativsten Rockband der Popgeschichte erlebt, bewirkt und erreicht hat? Alles und noch viel mehr. Obwohl er nie wirkte, als ginge es ihn etwas an. Während Mick Jagger, Keith Richards, Bill Wyman und Brian Jones in den 60er-Jahren Ohnmachtsanfälle und – 1965, Ernst-Merck-Halle, Hamburg – Straßenschlachten auslösten, war Watts das Auge des Hurrikans, der rhythmische Leuchtturm, der durch die Wogen in ruhige Fahrwasser lenkte. „Gimme Shelter“.
Charlie Watts und sein uncooler Hamburg-Gig
Auch später, als die Stones den maximalen Gigantismus ihrer Stadionkonzerte zelebrierten, saß Watts an seinen Gretsch-Kesseln wie ein Jazzer beim Frühschoppen, stoisch, unbeeindruckt, aber auf den Punkt. Warum der am 2. Juni 1941 geborene Charles Robert Watts so war, wie er war, zeigen nur bedingt die langen Listen seiner Karrierestationen, seiner Erfolge und sowohl beruflichen als auch privaten Rückschläge vom Altamont-Konzert bis zur Alkoholsucht.
Aber vielleicht der Rückblick auf ein Konzert in Hamburg. Allerdings nicht in der Ernst-Merck-Halle, wo die Stones zwischen 1965 und 1973 siebenmal auftraten. Auch nicht auf der Trabrennbahn 1998, im Volksparkstadion 2003 und 2007 oder auf der Festwiese im Stadtpark 2017. Sondern im Oktober 2009 im St. Pauli Theater. Mit den vermeintlich uncoolsten Musikern spielte Watts vermeintlich uncoolen Boogie-Woogie an einem absolut unrockigen Ort vor 500 Zuschauenden – und hatte augenscheinlich den Spaß seines Lebens.
Watts und Zwingenberger verstanden sich blind
Die Vorgeschichte: 1986 wurde der Ahrensburger Pianist Axel Zwingenberger eingeladen, für die BBC-Dokumentation „The South Bank Show – The History Of Boogie-Woogie“ mit britischen Musikern einige Lieder einzuspielen. Zwingenberger flog arglos nach London. „Ich kam ins Studio, die Rhythmusgruppe wurde mir vorgestellt, tja, und da saß eben Charlie Watts am Schlagzeug.“
Für Zwingenberger ist wie für Watts Boogie-Woogie eine Keimzelle des Rock ’n’ Roll. Der Pianist und der Schlagzeuger verstanden sich blind, und als es der Terminkalender der Stones viele Jahre später zuließ, gingen Zwingenberger und Watts mit den Pianisten Ben Waters und Jools Holland, Bassist Dave Green sowie den Saxofonisten Willie Garnett und Derek Nash auf eine Clubtournee durch Südengland.
Watts und sein „Ihr macht das schon“-Gesicht
Wie das ablief, konnte der Autor dieser Zeilen backstage im Londoner Purcell Room erleben: Die Musiker saßen entspannt auf Sesseln, Watts stieß dazu, begrüßte alle kurz und setzte sich an den Rand. Während grob die Reihenfolge der Auftritte besprochen wurde, setzte Watts ein „Ihr macht das schon“-Gesicht auf, dann ging es los.
Drei Stunden lang wurde vor 400 Fans ohne vorab festgelegte Songliste auf Zuruf gespielt, gejammt, improvisiert. „Honky Tonk Train Blues“ statt „Honky Tonk Women“. Am Ende verschwand Watts unauffällig, während der Rest der Truppe in den nächsten Pub zog.
Watts lacht in Hamburg herzlich über einen Witz
Auch in Hamburg schlugen Zwingenberger und Watts 2009 und 2011 auf. Das gleiche Spiel im St. Pauli Theater. Ihr macht das schon, keine Sorge, ich sitze am Schlagzeug, Hauptsache, ihr habt Spaß. Wie selbstverständlich saß der weltberühmte Trommler nicht an seinem Gretsch-Set, sondern am 40er-Jahre-Slingerland-Set von Axel Zwingenbergers Bruder Torsten. Er jammte auch noch spontan im Birdland und lachte herzlich über Axels Scherz, er möge den nächsten Song doch bitte in Tonart F trommeln.
Wenige waren Zeugen dieser ungewöhnlichen Auftritte, und sie haben einen Künstler erlebt, der sich komplett in den Dienst der Musik stellte. Bei den Rolling Stones musste man schon sehr genau hinschauen, um das auf den gigantischen, orgiastisch ausgeleuchteten Bühnen, auf denen Keith und Mick umherwuselten, zu erkennen. Im St. Pauli Theater aber war er das, als was er seit jeher beschrieben wurde: ein feiner, gut gekleideter englischer Gentleman. Mit einem Spleen für Boogie-Woogie. Und übrigens auch für Pferde.
Rolling Stones ohne Watts überhaupt zukunftsfähig?
Er wollte einfach nur spielen. Jazz, Rock ’n’ Roll, Boogie, Reggae, Beat, Disco, er liebte Musik wie sonst nichts – abgesehen von seiner Frau Shirley Ann, mit der er seit 1964 verheiratet war, seiner Tochter Seraphina und seiner Enkelin Charlotte. Vielleicht machte ihn das deshalb noch spektakulärer als seine Zeitgenossen Keith Moon, Ginger Baker, John Bonham und Mitch Mitchell, den Derwischen an den Kesseln, die es auch abseits der Bühne sehr – oft zu sehr – krachen ließen.
Jetzt wird spekuliert, ob die Rolling Stones, bei denen Watts zuletzt von Steve Jordan vertreten wurde, überhaupt noch eine Zukunft haben. Keith Richards teilte in der Nacht zu Mittwoch ohne Kommentar nur ein Foto des Gretsch-Schlagzeugs von Watts. Der Hocker ist leer, und ein Schild hängt an einem Ständer: „Closed“ – geschlossen.
Ringo Starr würdigt Charlie Watts
Ringo Starr, mit seiner songdienlichen, mitkomponierenden Spielweise durchaus vergleichbar, verabschiedete sich: „Gott beschütze Charlie Watts. Wir werden dich vermissen, Mann.“ Auch Paul McCartney, Elton John, Brian Wilson und viele weitere Wegbegleiter der 60er- und 70er-Jahre, Politik und Prominenz sind trauernd aus dem Takt geraten. Zu wissen, dass hinten nicht mehr Charlie Watts sitzt und den Laden zusammenhält, dass eine zuverlässige Konstante der vergangenen 60 Jahre nicht mehr da ist, schmerzt sehr.
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Und was würde Charlie Watts zu seinem Tod sagen? Wir kennen seine letzten Worte nicht. Aber vielleicht passen die, mit denen er sich vom Autor dieser Zeilen 2009 backstage im Purcell Room verabschiedete. Es ist ein Satz, der nicht nur zum Abend mit Zwingenberger, Holland, Garnett, Green und Nash passt oder zu den Rolling Stones, sondern zum ganzen Leben dieses einzigartigen Menschen und Schlagzeugers: „Ich hätte eigentlich noch zwei Stunden weiterspielen können, die Jungs haben es drauf.“