Hamburg. Das Beste aus den drei Stücken von Mr. Liederabend zündet im St. Pauli Theater als „Lust auf St. Pauli“. Mit prominentem Neuzugang.
Ein Besuch auf St. Pauli an einem stürmischen, nasskalten Wochenende mit immer wieder peitschenden Regenschauern? So richtig Lust auf einen Reeperbahn-Bummel macht das nicht. Doch für die Lust aufs Theater mit echter Live-Unterhaltung statt Nepp und Nippes gibt es am Spielbudenplatz ja gleich mehrere Etablissements.
„Lust auf St. Pauli“ im St. Pauli Theater ist solch ein Fall. Gar nicht mal neu, jedoch neu verpackt, teilweise neu arrangiert und mit teils neuem Personal ausstaffiert. All das funktioniert (noch immer), wie am Wochenende die Premiere des Best-ofs der zwischen 2006 und 2012 von Franz Wittenbrink (75) geschaffenen Liederabende „Lust“, „Ricky“ und „Nacht-Tankstelle“ zeigte. „Meister Franz“ hat seine Kiez-Trilogie mit einem elfköpfigen Ensemble auf gut 100 Minuten verdichtet und ermöglicht auch Neueinsteigern ironische Blicke hinter die Fassaden des Sex-Business mit ruppigen Umgangsformen.
St. Pauli Theater: Liederliche Lust-Gefühle à la Wittenbrink auf dem Kiez
Nostalgie schwingt darin immer mit. Und das nicht bloß, weil Marion Martienzen, eine Art agile Mutter, beim Finale des Abends auch Großmutter der sangesfreudigen Kompanie, den Abend mit Hildegard Knefs „Ich zieh mich an und langsam aus“ lustvoll eröffnet. Das letzte Drittel spielt wie gehabt in einer Tabledance-Bar, jedoch nach Schließung des Lokals. „Auf der Reeperbahn morgens um sechs, trinkt man sein Bier nur noch auf Ex“, singen Martienzen und ihre vier Reinemachefrauen.
Nicht strippen, putzen ist zu dieser frühen Stunde angesagt. Und so beendet Anneke Schwabe, Theatergängern als Sally aus „Cabaret“ und Polly aus der „Dreigroschenoper“ bestens bekannt, ihren lasziven Stangentanz zu „I Wanna Be Evil“ und stimmt neben Sabrina Ascacibar, Anne Weber und Susanne Jansen mit ein in die Arbeitsanweisung „Leg die Hand an den Schrubber“, nach der Melodie zu Paul Ankas Uralt-Schmuse-Hit „Put Your Head On My Shoulder“ (1960). Wie groß und wie komisch die musikalische Bandbreite der insgesamt mehr als 40 von Wittenbrink arrangierten Songs ist, zeigt Susanne Jansen, die Frau mit dem großen Volumen und dem klassischen Sopran: Erst gibt sie ihre Fassung von Vicky Leandros‘ Schlager „Theo, wir fahr‘n nach Lodz“ als dem Wodka verfallene polnische Putzfrau, wenig später dann die melancholische Ballade „Immer noch da“.
Beim Paul-Simon-Song „Der Boxer“ trifft Torsten Hamann nicht immer den richtigen Ton
Nun ist Jansen die Barfrau in der Boxer-Kneipe Zur Ritze. Den Übergang mit Umbaupause zum zweiten Drittel des Abends mit Auszügen aus „Ricky“ hat Sabrina Ascacibar mit „Veinte anos“ vor dem transparenten Vorhang da bereits kunstvoll gestaltet. Beherrschten bei „Lust“ (bis auf ganz wenige Ausnahmen) noch die Frauen das Bild, getreu Wittenbrinks Liederabend-Devise ohne jegliche Dialoge, führen im Box-Keller jetzt die Männer das Wort. Allen voran Jochen, „der Rochen“, den Hüne Torsten Hamann als Chef im Ring spielt. Beim Drill rutscht ihm im derben Jargon nicht bloß einmal die Hand aus.
Doch Holger Dexne (als im Gym eifrig an sich arbeitender Vertreter für Gurkenhobel) und Adam Nümm (als stotternder Nachwuchsboxer Ricky) stehen stramm oder marschieren mit, dass es eine Freude ist, ihnen dabei zuzusehen. Beim von Anne Weber umgetexten Paul-Simon-Song „Der Boxer“ trifft Hamann bewusst nicht immer den richtigen Ton und driftet bis nach Meckelfeld ab, beim Schlager „Ein Stern, der deinen Namen trägt“, offenbart er sein weiches Boxer-Herz und landet einen humoresken Punktsieg. Nur noch übertroffen von Dexnes „Gurkenhobel“-Lied nach der „Lollipop“-Melodie, mit dem der auch als Puff-Poet überzeugende Schauspieler unfreiwillig den Rausschmeißer macht.
Uwe Rohde legt als ausgemusterter Kapitän eine Arie hin, als hätte er Stoff von Pavarotti oder Jonas Kaufmann im Tank
Nachdem das Ensemble zu „Steh deinen Mann“ („Stand By Your Man“) eine zweite Umbaupause singend überbrückt hat, rücken in der „Nacht-Tankstelle“ schließlich familiäre Konflikte ins Zentrum. Wie das alljährlich eben so ist zu Weihnachten und seit der Uraufführung 2008 Brauch im St. Pauli Theater. Die Originalkulisse für die längst abgerissene Esso-Tanke auf dem Kiez steht wie ehedem. Und die Typen von nebenan, die teils Heimatlosen, die sich dort tummeln, muss man einfach gernhaben.
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Der von Erik Schäffler verkörperte Weihnachtsmann („Bescherung“) kann gleich mehrfach ein- und auspacken, bleibt aber ebenso der Tanke treu wie der Sohn (Tim Koller), der frei nach der Band Deichkind lieber „Krawall und Remmidemmi“ als Harmonie unterm Tannenbaum pflegt. Lang lebe der „Wellingsbüttel-Rap“! Einen ganz starken Part liefert auf St. Pauli der Tankstellen-Neuzugang Uwe Rohde. Der Bruder des noch bekannteren Armin Rohde legt als ausgemusterter Kapitän mit „Catari“ eine Arie hin, als hätte er Stoff von Pavarotti oder Jonas Kaufmann im Tank.
St. Pauli Theater: Begeistertes Premieren-Publikum erklatscht zwei Zugaben
Marion Martienzen schließlich füllt in ihrer Rolle als sangesfreudige Greisin am Rollator noch mal einen Schuss Super bleifrei nach. Das kostet aktuell zwar 2,309 Euro, doch wer noch derart viel Benzin im Tank hat, für den sind zwei vom begeisterten Premieren-Puklikum erklatschte Zugaben ein Klacks. Begleitet von der über den Darstellern thronenden fünfköpfigen Band um Leiter Matthias Stötzel. „Lust auf St. Pauli“ macht das Allstar-Ensemble allemal, und die „Nacht-Tankstelle“ öffnet ja auch erst zwischen den Jahren wieder für wenige Tage.
„Lust auf St. Pauli“bis 23.10. außer Di täglich 19.30 (So 18.00), St. Pauli Theater, Karten zu 19,- bis 54,- in der Hamburger-Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, T. 040/30 30 98 98; www.st-pauli-theater.de