Ein fantastisches Ensemble sorgt mit mitreißendem Kiez-Krippenspiel für vorgezogene Bescherung.
Hamburg. Dass die Menschen an Heiligabend mal so richtig auftanken, ist längst Teil der Tradition. Dass die einen das eher als emotionale Stärkung verstehen und die anderen das Abfüllen ganz wörtlich nehmen, ebenfalls. Sinnfälliger als in Franz Wittenbrinks neuer Inszenierung am St.-Pauli-Theater allerdings kann man die beiden Ansätze wohl kaum kombinieren. So beschwingt wie am Premierenabend seiner "Nacht-Tankstelle" jedenfalls hat man sich beim Blick in Richtung Benzinpreistafel lange nicht mehr gefühlt.
Was weniger an den dort angeschlagenen Dieselkosten liegt (die nämlich bewegen sich anfangs deutlich über dem Tagesdurchschnitt) als vielmehr an dem entfesselten Tiger, den Wittenbrink seinem Publikum in den Tank packt. Vor der - nach Vorbild der benachbarten Taubenstraße - fast originalgetreu rekonstruierten Esso-Kulisse schafft er ein Weihnachtsmärchen für Erwachsene, ein hinreißendes Kiez-Krippenspiel und einen der besten Wittenbrink-Liederabende seit - ja, vielleicht sogar seit seinem Ur-Erfolg "Sekretärinnen".
Dabei hält sich Wittenbrink auch diesmal weitgehend an sein bewährtes Erfolgsrezept: Er kombiniert ein paar große Hits der Musikgeschichte (von Schubert bis Deichkind) mit einem unkonventionellen Setting (Zapfsäule 7 dient kurzerhand als Rotwein-Bar) und schickt ein schräges Figurenpanoptikum aus begabten Schauspielersängern durch ein dramaturgisch unkompliziertes Grundgerüst.
Dabei jedoch verhält es sich mit gelungenem Musiktheater genau wie mit Bestsellern im Literaturbetrieb: Das Geheimnis ist, dass am Ende das Ganze viel mehr ist als die bloße Summe seiner Einzelteile. So auch am St.-Pauli-Theater, wo ein hervorragendes Ensemble die gerade richtige Balance zwischen Komik, Pathos und leiser Rührung findet.
Es ist Heiligabend, und auf dem Gelände der Nacht-Tankstelle glitzern die Schneeflöckchen. Bloß den dort Anwesenden ist weniger feierlich zumute, denn zur "Tiger-Wäsche" verirren sich in der Heiligen Nacht nur die Verlorenen, Einsamen und Gestrandeten. Die renitente Rentnerin zum Beispiel, ausgebüxt aus der Seniorenresidenz, die verwirrt versucht ihren Rollator zu betanken. Wirksamer zeigt sich da ein Schlückchen hochprozentiger Brennstoff für die "Fahrzeug"-Halterin: Marion Martienzen als rüstiger Tina-Turner-Verschnitt sorgt mit entsprechend wildem Grauhaar-Kopfputz und einer mitreißenden "Proud Mary"-Version für einen von vielen Höhepunkten der Show.
Auch Tim Reingruber ist als "Styler von Wellingsbüttel", mit Jogginghose auf halb acht und degeneriertem Ecstasyblick, voll auf "Krawall und Remmidemmi" gebürstet. Dass Papa mit der Akustikgitarre vorbeikommt und mit dem aktuellen Hit der Ärzte fragt "Junge, warum hast du nichts gelernt?" ist zwar brüllend komisch, pädagogisch allerdings weitgehend kontraproduktiv. George Meyer-Goll, im Ehestreit vor dem vegetarischen Festtagsbraten geflohen, verzückt mit philosophischem "Heidegger-Digger"-Rap, Anne Weber träumt die bourgeoisen Blockflötensehnsüchte einer Bordsteinschwalbe und seufzt als entlassene Investmentbankerin das sanft-böse "Autumn leaves" ("Wenn man bloß wüsste, wie Armut geht!"). Die stimmgewaltige Victoria Fleer als motziges Punkmädchen überzeugt mit Amy-Winehouse-Talent, Peter Franke rührt als auf Grund gelaufener Seebär. Und Erik Schäffler schließlich sorgt als haubitzenvoller Weihnachtsmann und "White Christmas" tönender Eisbär für den angemessenen Feiertagsirrsinn. Standing Ovations, Fußgetrampel, verzücktes Jauchzen und Bravorufe ließen keinen Zweifel daran: Diese "Nacht-Tankstelle" ist derzeit Hamburgs bestes Musical.
Am Ende fallen sogar die Benzinpreise auf unter 50 Cent. Mehr Bescherung geht nun wirklich nicht.